Berlins Lehrer des Jahres fordert „notwendige und realisierbare Schulreform“

Das Schulsystem sei keine Katastrophe. Schülerinnen und Schüler werden nicht dümmer. Dennoch müsse sich an unseren Schulen etwas ändern, findet Berlins frisch gekürter Lehrer des Jahres Robert Rauh.

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Der Gymnasiallehrer nutzt die Aufmerksamkeit, um sein Herzensprojekt voranzutreiben: eine „notwendige und realisierbare Schulreform“. 5.000 Schüler, Eltern und Lehrer haben die Petition bereits unterschrieben, ebenso Prominente wie Eisschnellläuferin Jenny Wolf, Schauspielerin Corinna Harfouch und ihr Kollege Björn Harras.

  1. Gleiche Anforderungen in allen Bundesländern

    Der Geschichtslehrer und seine Mitstreiter fordern bundesweit gleiche Schulabschlüsse und Kompetenzstandards. Der beschlossene bundesweite Pool mit Abituraufgaben könne nur der Anfang sein. Rauh votiert für einheitliche Kerncurricula, ohne den Bildungsföderalismus abzuschaffen. „Denn die gesunde Konkurrenz der Länder hat dazu geführt, dass regional Schulkonzepte ausprobiert wurden, die keinen Zentralismus vertragen. Aber es gibt praktische Probleme. Wenn eine Familie von einem Bundesland in ein anderes umzieht, ist es schwierig, das Kind in die richtige Schulform und Klasse einzuordnen, da ganz andere Schulstrukturen existieren. Das muss einheitlich werden“, so Rauh.

  2. Weniger Inhalte, mehr Kompetenzen

    Die Lehrpläne seien zu vollgepackt. Schülerinnen und Schüler lernen für Klausuren und vergessen den Stoff gleich wieder. Man müsse weg vom „Bulimie-Wissen“ und hin zur Förderung von fachbezogenen und sozialen Kompetenzen. Doch wie sieht das in der Praxis aus? Rauh erklärt es an einem Beispiel: „Vor einigen Jahren war in der Diskussion, die Bundesländer Berlin und Brandenburg zusammenzuschließen und das neue Bundesland Preußen zu nennen. Ich habe dann im Geschichtsunterricht einen Aktualitätsbezug hergestellt: Die Schülerinnen und Schülern sollten dem Berliner Abgeordnetenhaus und dem Brandenburger Landtag ein Gutachten verfassen, in dem sie Stellung dazu nehmen, ob der Name Preußen aus historischer Sicht geeignet ist. Die Teams mussten sich entscheiden, ob sie für oder gegen den Namen sind und eine Begründung finden. Die Aufgabe förderte fachliche Kompetenzen, indem sie lernten, historisch zu argumentieren. Außerdem waren soziale Kompetenzen gefragt, da sie sich im Team einigen mussten und fachübergreifende Kompetenzen, da der Brief an Politiker und nicht an Klassenkameraden gerichtet war.“

  3. Kleinere Lerngruppen und längere „Stunden“

    Die Reform fordert kleinere Klassen von maximal 25 Schülerinnen und Schülern. Dieser Punkt findet besonders viel Zustimmung unter Eltern und Lehrkräften. Unterrichtsstunden sollen zudem von 45 Minuten auf 60 bzw. 90 Minuten verlängert werden. „Bei 32 Schülerinnen und Schülern in einer Klasse lässt sich in 45 Minuten kein binnendifferenzierter Unterricht realisieren. Außerdem können Kinder und Jugendliche nicht individuell gefördert werden“, so der Lehrer.

  4. Gleiche Bildungschancen für alle

    Um Kindern aus sozial benachteiligten Elternhäusern gleiche Bildungschancen zu ermöglichen, müssen kostenlose Angebote wie Hausaufgabenbetreuung oder Nachhilfeunterricht in der Schule sowie zusätzlicher Sprachunterricht zur Verfügung stehen. Um das anbieten zu können, fordert Rauh Investitionen in Personal und Gebäude. So müsse der Ausbau von Ganztagsschulen mit mehr Personal und einer qualitätsgerechten sowie bezahlbaren Schulkantine vorangetrieben werden.

  5. Professionalisierung der Schulorganisation

    Lehrkräfte und vor allem Schulleitungen verbringen immer mehr Zeit mit schulorganisatorischen und administrativen Aufgaben. „Für die tagtägliche Organisation soll es einen Schulmanager geben, damit die Schulleitung entlastet wird und sich um die pädagogische Arbeit kümmern kann. Dadurch hätte der Direktor mehr Zeit, neue pädagogische Konzepte auszuprobieren“, erklärt Rauh. Außerdem solle an jeder Schule eine Sozialpädagogin bzw. einen Sozialpädagoge fest angestellt sein, damit schulische Konflikte schneller entschärft und Eskalationen verhindert werden können.

  6. Moderne räumliche und mediale Ausstattung der Schulen

    Viele Schülerinnen und Schüler haben mittlerweile Smartphones und ständigen Zugang zum Internet. Doch die mediale Ausstattung an Schulen lässt zu wünschen übrig. Deswegen fordert der Geschichtslehrer eine zeitgemäße IT-Infrastruktur, inklusive Touchpads, um pädagogisch geprüfte Lern- und Unterrichtssoftware zu verwenden. Außerdem müssen alte Schulgebäude saniert werden, jede Schule soll über Pausenräume, eine Kantine, eine Aula und einwandfreie Sanitäranlagen verfügen. Bei Neu- und Umbauten müsse architektonisches Neuland betreten werden, denn Schulen sollen nicht Krankenhäusern oder Kasernen gleichen, sondern ein Ort sein, an dem sich Schülerinnen und Schüler wohl fühlen, an dem ein optimales Lernklima herrscht.

  7. Regionale Vernetzung der Schulen

    Rauh fordert, Schulen besser mit außerschulischen Einrichtungen, z. B. Sportvereinen, Musikschulen, Jugendklubs und Museen, zu verbinden. „Im Zusammenhang mit Ganztagsschulen haben Eltern und Kinder oft die Befürchtung, dass der Unterricht auf den Nachmittag verlagert wird und Schüler keine Zeit mehr für Vereine und Hobbys haben. Mit einer effizienten Koordinierung von schulischen und außerschulischen Angeboten würden Eltern, Kinder und Jugendliche wissen, wo sie was und wann am Nachmittag nutzen können“, so Rauh. Dieser Punkt war für Eisschnellläuferin und Reformunterzeichnerin Jenny Wolf besonders wichtig, denn Kinder sollten die Möglichkeit haben, sich in einem Verein ausleben zu dürfen.

  8. Ein zweigliedriges Schulsystem – in allen Bundesländern

    Außer Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Hessen haben alle Bundesländer Haupt-, Real-, und Gesamtschulen zu einer Schulform zusammengefasst. Rauh votiert dafür, dass dies deutschlandweit geschieht. So werde nicht nur die Chancengleichheit erhöht, sondern auch ein Umzug von einem Bundesland in ein anderes erleichtert. Das Gymnasium soll als Schulform erhalten bleiben.

  9. Kein Turbo-Stress-Abitur

    Schülerinnen und Schüler, Eltern und Lehrkräfte beschweren sich seit Einführung des G8 über überfüllte Lehrpläne, lange Schultage, viele Hausaufgaben und permanenten Stress. Der Kritik soll endlich Rechnung getragen werden, indem das Abitur nach 13 Jahren wieder eingeführt wird oder die Lehrpläne optimiert werden. So könne Ganztagslernen (Schulaufgaben statt Hausaufgaben) sowie eine Kürzung der Lehrplaninhalte Verbesserung bringen. Um ein Reform-Hin-und-Her zu vermeiden, würde die Wahlmöglichkeit für G8 und G9 bestehen bleiben.

  10. Späterer Unterrichtsbeginn

    Mit Hinweis auf die Hirnforschung plädiert Rauh für einen späteren Unterricht. Schulen sollen selbst entscheiden können, wann zwischen 8:30 und 10:00 Uhr die erste Stunde beginnt. Diese Forderung hat dem Geschichtslehrer die meiste Kritik eingebracht. Eltern, die z. B. bereits um 7 Uhr mit der Arbeit beginnen, hätten dann morgens keine Zeit für ihr Kind. Schülerinnen und Schüler fürchten wiederum, dass sie als Ausgleich ihre Nachmittage in der Schule verbringen müssten. „Wenn aber Lerninhalte entschlackt werden, dann ist das nicht mehr der Aufreger. Wir stützen uns auf Studien aus den USA, die belegen, dass Schüler sich erst ab 9 Uhr konzentrieren können. Regional wird das in Deutschland bereits umgesetzt. Diese Schulen verzeichnen einen höheren Lernzuwachs und entspanntere Schülerinnen und Schüler“, argumentiert Rauh.

Inzwischen hat die Politik reagiert: Der Berliner Senat bat den Geschichtslehrer bereits zu einem Gespräch. Worum es in diesem Treffen ging, darf Rauh nicht verraten. Nur so viel: „Im Frühjahr wollen wir den Aufruf zusammen mit den Unterschriften der Bildungsministerin Johanna Wanka übergeben“, so der Lehrer des Jahres. Bis dahin hofft er, 10.000 Unterschriften gesammelt zu haben.

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Titelbild: © Robert Rauh