Über den ewigen Schüler im Lehrer

Als Referendarin werde ich immer gefragt, wie es in der Schule sei. Diese Frage finde ich lustig, ist doch die Schule einer der wenigen Orte, den jeder kennt – wenn auch aus einer anderen Perspektive.

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Um einen besseren Einblick in den Schulalltag zu geben, möchte ich an dieser Stelle ein Gedankenexperiment vorschlagen und eine Stunde an einem Montagnachmittag skizzieren: Stellen Sie sich einen Klassenraum vor. Schmale Tische, kleine Stühle. Die Luft im Raum ist stickig, obwohl ich in jeder Pause gelüftet habe. Es ist die letzte Stunde. Hinter mir liegt bereits ein langer Tag. Wegen der Stundenvorbereitungen für die laufende Woche bin ich viel zu spät ins Bett gekommen. In den Gesichtern meiner Schüler lese ich, dass sie nicht viel früher schlafen gegangen sind. Ich kann kaum erwarten, dass der Tag vorbei ist.

Klassenleiterstunde

Die Schulklingel läutet, die Stunde geht los. Die Menge sitzt vor mir. Es findet ein im ganzen Raum rauschendes Gebrabbel statt. Dass die Schüler quatschen müssen, kann ich einerseits nachvollziehen. Es gibt viel auszuwerten: Der Tag war lang. In den vergangenen drei Hofpausen war genug Zeit für die Schüler, bestehende Beziehungen aufzulösen, neue Partner zu finden, sich zu prügeln, sich unsterbliche Freundschaft zu schwören, sich zu ewiger Feindschaft zu bekennen. Andererseits bin ich genervt. Es ist die letzte Stunde. Wir müssen den Klassensprecher wählen. Ich brauche die ganze Aufmerksamkeit meiner Schüler. Und ich brauche sie jetzt. Eine erste Ermahnung verpufft im Getuschel. Ich beginne, die Schüler einzeln anzusprechen: „Marvin und Anne! Hört zu!“ und verzeichne einen Erfolg: Die ersten richten ihre Augen nach vorn.

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Vorbereitung

Auch eine Klassenleiterstunde benötigt viel Vorbereitung. Würde ich die Schüler jetzt bitten, sich freiwillig für die Übernahme eines Amtes zu melden, würden wir in diesem Raum sitzen, bis die Putzkraft uns höflich aber bestimmt bittet, das Gebäude zu verlassen. Vorbereitung bedeutet in diesem Kontext: Freiwillige Schüler vorher ausfindig zu machen. Mir ist es tatsächlich gelungen, einen Schüler zu finden, der den Posten übernehmen würde. Er soll die Argumente für seine Wahl pro forma vortragen, ehe wir zur Abstimmung schreiten. Im Raum macht sich eine genervte Grundhaltung breit. Sätze wie „Streber – der meldet sich auch für alles freiwillig.Wen möchte er beeindrucken?“ erreichen mein Ohr und auch das des Schülers. Insgeheim frage ich mich, warum Gustav sich das antut. Als Klassensprecher wird man für viel Ungutes verantwortlich gemacht. Natürlich bin ich dennoch froh über Gustavs Engagement. Es wird uns das Date mit der Putzkraft ersparen.

Atmosphäre

Der arme Mensch versucht seit einigen Minuten, mit seinem Vortrag zu beginnen, doch niemand hört ihm zu. Ich rufe alle Schüler ein weiteres Mal zur Ruhe. Ein leises Getuschel, Augenrollen und genervte Seufzer. Ich gebe auf und lasse sie gewähren. Ich blicke in den Raum: Lina und Ayla haben beginnen, die Mathe-Hausaufgaben zu machen. Das tut mir leid für Gustav. Ich freue mich aber trotzdem, dass die beiden etwas Sinnvolles tun. Nicht so Nils, der Arbeitsblätter zu Papierfliegern faltet und sie durch den Raum segeln lässt. Ich fange eines der Fluggeräte ab und lege es mit einem strengen Blick auf das Lehrerpult. Hassan und Eva, beide augenscheinlich seit kurzer Zeit aneinander interessiert, schauen sich durch den gesamten Raum tief in die Augen und formen mit ihren Mündern stumme Liebesbekundungen. Ich lasse sie gewähren. Diese Stunde dient mehr der organisatorischen Pflichterfüllung als der Umsetzung von Schuldemokratie. Ins Gesicht eines jeden Anwesenden steht die blanke Hoffnung geschrieben, diese Stunde möge bald vorbei sein. Bekräftigt wird diese Grundstimmung durch das lustlose Heben sämtlicher Schülerarme zur Besiegelung von Gustavs Amt. Geschafft. Die Stunde ist vorbei.

„Und nun?“, werden Sie sagen. „Das ist Unterricht heute?“ Schüler hatten schon vor zehn Jahren wenig Lust auf Unterricht. Kamen unkonzentriert aus der Pause. Ließen sich vom Quatschen nicht abhalten. Zeigten wenig Motivation und noch weniger Engagement. Waren interessierter am neuesten Klatsch und Tratsch als am Unterrichtsgeschehen. Störten. Strebten. Streikten. Und schon damals regten die Lehrer sich darüber auf.

Auflösung

Nun ist es aber so, dass die oben beschriebene Stunde nicht in meiner siebten Klasse stattgefunden hat, sondern in meinem Lehrerkollegium. Ich hielt keine Klassenleiterstunde, sondern meine erste Konferenz. Nicht Marvin und Anne hörten zu Stundenbeginn nicht mit dem Quatschen auf, sondern Herr Müller und Frau Schulz. Nicht Gustav meldete sich für das Amt des Klassensprechers, sondern Herr Meier für das Amt des Brandschutzbeauftragten. Nicht die Schüler hörten seiner Rede nicht aufmerksam zu, sondern das gesamte Kollegium. Nicht Lina und Ayla machten ihre Mathe-Hausaufgaben, sondern Frau Weber und Frau Grimm kontrollierten ihre Klausuren. Und nicht Hassan ist in Eva verliebt, sondern Herr Schuster in Frau Herz.

Wozu nun dieses Gleichnis?

15 Minuten vor der Konferenz jammerten und klagten beinahe alle Lehrer über die Zustände im Klassenzimmer: Über Unaufmerksamkeit, Störenfriede und kleine Frechheiten. Kaum sollten sie selbst zuhören und aufmerksam sein, benahmen sie sich wie ihre Schüler. Ich möchte mich selbst nicht herausnehmen. Ich bin dankbar für jede mir durch das Kollegium abgenommene Aufgabe. Ich versuche selbst, die Zeit bei Konferenzen sinnvoll zu nutzen und gehe im Kopf meine nächsten Unterrichtsstunden durch. Ich hänge nie meine Jacke an den Haken und habe immer einen Kaugummi im Mund. Wenn nun also nicht einmal wir Lehrer zu Konzentration und Disziplin in der Lage sind – wie können wir sie dann den Schülern abverlangen?

Alle Artikel von Franziska



Titelbild: © Robert Kneschke/shutterstock.com