Lehrerin Franziska: Was mich wütend macht

Eigentlich sollte an dieser Stelle eine Kolumne über die große Pause an Franziskas Schule stehen. Stattdessen brennt ihr ein anderes Thema unter den Nägeln.

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Neulich in der S-Bahn …

Vor nicht langer Zeit saß ich in einem Wagon der Berliner Stadtbahn und war auf dem Weg zur Geburtstagsfeier einer Freundin. Da diese Freundin zu meinem Bedauern nicht in meiner Nähe wohnt und ich mich auf eine längere Bahnfahrt einstellte, nahm ich einen Stapel Diktate mit, deren monotone Korrektur ich mir trotz zu erwartender Fußballfans in den öffentlichen Verkehrsmitteln zutraute. Mittlerweile bin ich ganz gut darin, größere Papierstapel auf meinem Schoß zu organisieren und mich nicht von anderen Mitfahrern und Mitfahrerinnen ablenken zu lassen.
Ich fand einen Platz und korrigierte drauflos. Kaum zwei Stationen war ich gefahren, da flüsterte mir ein ergrauter Mann zu: „Welche Klassenstufe unterrichten Sie denn?“ Beinahe gerührt von dem Versuch der Kontaktaufnahme durch einen mir fremden, dennoch interessierten Menschen antwortete ich: „Das sind die Arbeiten einer achten Klasse.“ Der ältere Herr war nun schockiert und teilte mir direkt mit, dass er das Niveau des Schülers, dessen Text sich gerade auf meinen Knien befand, „höchstens auf die dritte Klasse geschätzt“ hätte. Beschwichtigend verkündete ich ihm, dass dieser Schüler erst seit eineinhalb Jahren in Deutschland lebe und er für diese kurze Zeit, in der er Deutsch lerne, ein wirklich gutes Diktat geschrieben habe. Auf seine Nachfrage hin erklärte ich ihm, dass schätzungsweise 80 Prozent meiner Schüler und Schülerinnen nichtdeutscher Herkunft seien. Meinen Sitznachbarn veranlasste diese Information zu einem Redeschwall seiner Meinung, nach der ich nicht gefragt hatte. Die Höhepunkte dieses Vortrags seien hier zusammengefasst: „Ich bin mir sehr sicher, dass Sie Ihren Bildungsauftrag bei so vielen Migrantenkindern nicht erfüllen können … Die deutschen Kinder lernen bei Ihnen doch überhaupt nichts … Es ist wirklich schlimm mit den Ausländern in Berlin heute …!“

Meine Wut

Ich bin wütend. Auf diesen Mann und auf seine rassistische, rechte Denke. Darauf, dass mir solche intoleranten Bemerkungen in den öffentlichen Verkehrsmitteln leider schon öfter zu Ohren kamen, weil sie in Deutschland irgendwie salonfähig geworden sind. Ich bin wütend darauf, dass Flüchtlinge von vielen Berlinerinnen und Berlinern nicht als Bereicherung, sondern als Gefahr wahrgenommen werden. Ich bin wütend, weil Teilen unserer Gesellschaft humanistische Werte und Weltoffenheit fehlen, obwohl beides im 21. Jahrhundert selbstverständlich sein sollte. Besonders nach den Lehren, die uns das 20. Jahrhundert brachte. Ich bin wütend über politische Missstände und darüber, dass ich mich ihnen machtlos ausgesetzt fühle. Machtlos deswegen, weil ich dem Mann nicht viel mehr als meine Meinung mit auf den Weg geben konnte und er sich von ihr nicht beeindruckt zeigte. Machtlos auch deswegen, weil ich gern so vielen Schutz bieten würde, mich so gern einbringen würde, am Ende des Abends aber doch nichts richtig tue.

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Was kann ich also tun?

Ich kann an dieser Stelle dafür einstehen, wie bereichernd die verschiedenen Kulturen in meinem Klassenzimmer sind. Mir gegenüber sitzen Kinder mit türkischen, arabischen, syrischen, russischen, vietnamesischen, philippinischen und deutschen Wurzeln. Einige von ihnen wurden in Berlin geboren, andere kamen vor kurzer oder längerer Zeit mit ihren Familien nach Deutschland. In meiner Klasse sind Kinder, die gern lernen und Kinder, die sich damit schwertun oder sich verweigern. Mit ihrem kulturellen oder religiösen Hintergrund steht dies aber nicht im Zusammenhang. Ich freue mich darüber, wenn die Jugendlichen mir etwas in ihre Sprache übersetzen, ich lasse mir von Rezepten berichten und mich in Halāl-Ernährung belehren. Das alles bildet mich und hat mich schon oft dazu gebracht, genauer über meine eigene kulturelle Identität nachzudenken. Letzteres würde ich mir von vielen Deutschen wünschen. Ich möchte in keinem Land leben, in dem Menschen, die Schutz suchen, nur Hass und Anfeindung finden. Meine Heimat soll ein Land sein, das sich willkommen und hilfsbereit zeigt.

Der ältere Herr stieg übrigens am Hauptbahnhof aus und hatte einen großen Koffer bei sich. Nachdem ich gerade für eine Willkommenskultur plädiere, hört es sich falsch an, jemandem die Ausreise zu wünschen. Berlin kann und soll für viele ein Zuhause sein. Nur für nationalistische Idioten nicht.

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Titelbild: © Nieuwland Photography/shutterstock.com