Meine Lieblingsstunde: Sexualkunde, 8. Klasse

In den Ferien denkt Franziska gern an die unterhaltsamsten Einheiten des vergangenen Schuljahres zurück. Ihre Lieblingsstunde betraf gar nicht ihren eigenen Unterricht und war deswegen besonders lehrreich für sie.

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Wie ich als Sonderpädagogin andere Fächer verstümmele

Ich habe oft das Glück, fremdem Unterricht beiwohnen zu dürfen. Als sonderpädagogische Unterstützung für lernschwächere Schülerinnen und Schüler bemühe ich mich dann, umfassende Inhalte zu vereinfachen und auf das Wesentliche zu minimieren. Dabei ist es oft von Vorteil, dass ich das betreffende Fach nicht selbst studiert habe.

Zum Beispiel ist es für mich als Deutschlehrerin schwer, Textinhalte auszusortieren. Alles hat irgendwie eine Relevanz. Einem grammatischen Schwerpunkt seine Wichtigkeit abzusprechen, fällt mir nicht leicht. Besonders mit Blick auf die Sprachkompetenz meiner Schützlinge.

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In anderen Fächern bin ich da großzügiger. Ich kann schnell ausmachen, was ich aus Mathematik noch nie im richtigen Leben brauchte. Oft sind das die Inhalte, die ich zu Schulzeiten selbst nur schwer begriffen habe – und da ich mich aber für sehr wohl lebensfähig halte, habe ich den logischen Schluss gezogen, dass auch meine Schülerinnen und Schüler nicht alles Wissen benötigen.

Zuletzt verschlug es mich wöchentlich in eine Einzelstunde des naturwissenschaftlichen Unterrichts meiner achten Klasse. Zum Ende des Schuljahres wollte die NaWi-Lehrerin mit der Schülerschaft noch über die Sexualkunde sprechen. Ich möchte ganz ehrlich sein: Auf dieses Thema hatte ich mich wirklich lange gefreut. Kaum ein Inhalt bringt die Schülerinnen und Schüler so sehr aus dem Konzept. Außerdem interessierte mich, wie sexualisiert die Jugendlichen, die tagtäglich mit dem Internet konfrontiert werden, tatsächlich sind. Gleichzeitig war mir natürlich klar, dass ich die Inhalte nicht besonders gut „aussortieren“ können würde. Über die Konsequenz eines nicht-angesprochenen Themas wollte ich lieber gar nicht nachdenken.

Und am Ende menstruieren wir noch ein bisschen …

Aber von vorn. Frau S. ist die NaWi-Lehrerin meiner achten Klasse. Mit ihrer coolen und ruhigen Art scheint sie nur dafür auf der Welt zu sein: Um Jugendliche über Sex aufzuklären. Bis zu diesem Punkt war es inhaltlich aber ein weiter Weg im NaWi-Unterricht. In Berlin werden an der Integrierten Sekundarschule bis zur neunten Klasse Biologie, Chemie und Physik in einem Fach gebündelt unterrichtet. Hebelgesetze und Bunsenbrenner kannten meine Schülerinnen und Schüler schon. Der eigene Körper und was man (und frau) mit ihm anstellen kann, kam erst jetzt dran. In der Vorbereitung der Unterrichtseinheit fand folgender Dialog zwischen Frau S. und mir statt:

Frau S.: „Also, Sexualkunde – ich will dir nichts vormachen … wir müssen bei unseren Schützlingen da ganz von vorn anfangen.“

Frau F.: „Ganz von vorn?“

Frau S.: „Jap. Also bei der Benennung der Geschlechtsteile. Wir fangen am besten mit meiner Lieblingsstunde an! Das wird ein Spaß! Die Schülerinnen und Schüler dürfen alle Namen dafür nennen, die ihnen dafür einfallen. Da kommen immer die witzigsten Sachen an die Tafel!“

Frau F.: „Oh, da bin ich gespannt! Da lernen wir bestimmt am meisten!“

Frau S.: „Genau. Naja … und danach gehen wir auf Namen und Funktion der einzelnen Bestandteile ein. Und am Ende menstruieren wir noch ein bisschen. Mehr werden wir bis zu den Ferien nicht schaffen.“

Frau F.: „Wie? Zur Verhütung und zum Geschlechtsverkehr kommen wir nicht mehr?“

Frau S.: „Ich fürchte, leider nein …“

Das ließ folgende Befürchtung in mir entstehen: Meine Schülerinnen und Schüler sind 14 Jahre alt. Die Ferien standen kurz bevor. Den Geschlechtsverkehr würden sie zur Not auch selbst entdecken. Die Verhütung würden sie jedoch im schlimmsten Fall vergessen. Ich wollte allerdings nicht die fachfremde Besserwisserinkollegin sein und anmerken, wie überflüssig mir Bunsenbrenner und Hebelgesetz gerade im Vergleich dazu erschienen.

Und das kam nun tatsächlich im Unterricht heraus

Die spaßige erste Stunde war dann tatsächlich langweilig. Ich hatte mich richtig darauf gefreut, neue Wörter zu lernen. Die Kollegin Frau G., deren Freistunde in besagte NaWi-Stunde fiel, übrigens auch. Sie setzte sich extra mit in den Unterricht und wurde bitter enttäuscht. Verzweifelt war sie es irgendwann, die der entspannten Frau S. vor Augen und Ohren unserer verschüchterten Schüler und Schülerinnen Begriffe, wie „Melonen, Möpse, Schwanz!“, zurief. Zur Klasse sagte sie dagegen nur kopfschüttelnd: „Ernsthaft, Leute, dafür hab ich mir jetzt den Kaffee mit Frau M. entgehen lassen!“ Immerhin wagten noch einige mutige wie offensichtlich optimistische Jungs Vorschläge, wie „Anakonda“, als Betitelung für ihr bestes Stück anzubringen. Während Frau S. auch diese Vorschläge seelenruhig an die Tafel schrieb, schauten Frau G. und ich nur bewundernd zu ihr. Wir beide waren uns einig, dass wir zu unreif wären, um dieses Fach so besonnen und ohne Kichern zu unterrichten.

Federtaschen als Sichtschutz

Als Sonderpädagogin hatte ich dieses Mal die besonders wichtige Funktion, zu allen Schülerinnen zu gehen, denen das Thema zu unangenehm war, um auch nur eine schematische Darstellung ihres eigenen Geschlechtsorgans zu betrachten. Beschämt hielten sie Federtaschen und Hausaufgabenhefte über die Abbildungen und sahen aus dem Fenster. Jeder Einzigen musste ich erklären, wie wichtig ich es finde, dass sie genau über ihren Körper Bescheid wüsste und sei es nur, damit ihnen Menschen, die es böse meinen könnten, nicht irgendetwas Falsches darüber erzählen.

Ein paar Highlights hielt die Einheit dann doch noch für uns bereit: Nachdem wir bereits benannt hatten, dass sowohl Menstruationsblut als auch ein Baby aus der Vagina kommen können, ergänzte Sergej stolz, dass beim Sex auch der Orgasmus der Frau aus der Scheide laufe. Fabian war mutig genug zu fragen, woher man als Mann wisse, dass man beim Sex tatsächlich die Vagina und nicht die Harnröhre „getroffen“ hätte. Frau S. versicherte ihm daraufhin, dass die Harnröhre viel zu klein sei, um sie „zu treffen“. Und lässig wie Frau S. nun mal ist, ergänzte sie noch: „Naja und alle anderen möglichen Öffnungen – das muss man schon wirklich wollen, damit man die treffen kann.“ Meine Anerkennung für Fabians Mut stieg ins Unermessliche, als er trotz der beruhigenden Worte seiner Lehrerin weiter nachfragte: „Und wenn der Mann einen Mikropenis hat?“

Ich stelle also fest: Die Jugend von heute ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ähnlich verschüchtert und nicht kreativer in der Kommunikation über Sex, als wir es waren. Ob die neuen Medien sie bei dem Thema wissender oder verunsicherter haben werden lassen, wird sich mir wohl erst im neuen Schuljahr erschließen. Ich werde dann berichten.

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Titelbild: © Larisa Rudenko/shutterstock.com