Flipped Classroom: Den Unterricht umdrehen?

Aus den USA stammt die Idee, das „Klassenzimmer umzudrehen“. Schüler und Schülerinnen eignen sich den Lehrstoff per Lernvideo zu Hause an und bearbeiten dazu am nächsten Tag Aufgaben – mit Unterstützung der Lehrperson. Welche Vor- und Nachteile dieses Konzept hat und wie es sich umsetzen lässt, erfahren Sie im folgenden Artikel unseres Gastautors Christian Spannagel, Professor für Mathematik- und Informatikdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.

So klappt's mit dem Lernen – jetzt im Video anschauen!

Flip your class!

Seit einiger Zeit ist ein Lehrkonzept unter dem Namen Flipped Classroom oder Inverted Classroom sowohl für die Hochschule als auch für die Schule sehr populär geworden [1] [2]. Lehrvorträge, die bislang in der Vorlesung beziehungsweise in der Unterrichtsstunde gehalten wurden, werden im Flipped Classroom den Lernenden als Video zur Verfügung gestellt. Diese schauen sich die Videos zu Hause an und bereiten sich so auf die nächste Vorlesung oder Stunde vor. Dort haben sie dann die Gelegenheit, das Wissen, das sie anhand der Videos erworben haben, anzuwenden, zu üben und zu festigen, und zwar anhand von Aufgaben, die sie früher als Hausaufgaben aufbekommen haben. Die Aktivitäten werden also „umgedreht“ (engl. to flip = umdrehen): Lehrervortrag zu Hause – Hausaufgaben in der Schule. Dies ermöglicht es der Lehrperson, mehr Zeit für individuelle Betreuung und Beratung dann zur Verfügung zu haben, wenn es notwendig ist, nämlich dann, wenn die Lernenden bei der Bearbeitung von Aufgaben Fragen haben. Und darüber hinaus haben die Lernenden die Möglichkeit, sich gegenseitig bei Aufgaben zu helfen, deren Lösungen sie früher vielleicht voneinander abgeschrieben hätten.

Die Idee des Flipped Classroom beruht auf der üblichen Kritik an Lehrervorträgen: Studierende sowie Schülerinnen und Schüler können Vorträgen nicht lange folgen, sie sind dabei im Wesentlichen rezipierend und nicht produktiv tätig, und darüber hinaus besteht keine Möglichkeit für Individualisierung und Differenzierung. Trotzdem würdigt die Methode die Bedeutung von Erklärungen und Demonstrationen: Menschen lernen auch dadurch, dass man von anderen Menschen etwas erläutert oder vorgeführt bekommt. Die Bereitstellung solcher Vorträge als Video ermöglicht es den Lernenden, sich selbstständig in ihrem eigenen Tempo mit den Inhalten zu befassen: Wenn man etwas nicht versteht, kann man das Video stoppen, das Ganze nochmal durchdenken, oder das Video erneut ansehen.

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Flipped Classroom in Hochschule – und Schule?

Für mich persönlich war die Entdeckung dieser Methode der Durchbruch für die Veränderung meiner eigenen Vorlesungen im Lehramtsstudium an der PH Heidelberg [3]. Früher habe ich 90-minütige Mathematikvorlesungen gehalten, immer mit dem unbefriedigenden Gefühl, dass „nur die Hälfte ankommt“. Heute stelle ich den Studierenden Videos zur Verfügung, die sie zu Hause in Vorbereitung auf die Vorlesung ansehen – oder besser: durcharbeiten. Dazu vervollständigen sie Lückenskripte und beantworten Fragen auf Aufgabenblättern mit den Informationen aus den Videos. In der Vorlesung (die dann „Plenum“ heißt) haben wir dadurch die Möglichkeit, Fragen zu den Videos gemeinsam zu besprechen, Aufgaben zu lösen und vertiefende Aspekte zu diskutieren. Außerdem konnte ich in meiner eigenen Vorlesung vormachen, was von Lehramtsstudierenden auch in der Schule verlangt wird: eine methodisch abwechslungsreiche Stunde zu gestalten und lernerzentriert zu arbeiten.

Ist der Flipped Classroom auch eine Methode, die in der Schule angewendet werden kann? Lehrervorträge wie beispielsweise die Demonstration eines Verfahrens (z.B. das Aufstellen und Ausgleichen von Reaktionsgleichungen in der Chemie, wie dies Birgit Lachner [4] gemacht hat) können den Schülerinnen und Schülern per Video zur Verfügung gestellt werden. Diese schauen sich das Video zu Hause an und übertragen das Gesehene gleich auf zwei, drei weitere ähnliche Situationen. In der Unterrichtsstunde selbst können dann Fragen dazu besprochen und sowohl ähnliche als auch schwierigere Aufgaben gelöst werden, zum Beispiel in Partnerarbeit. Die Lehrperson gewinnt dadurch die Zeit, die sie früher für die Erklärung in der Unterrichtsstunde benötigt hätte, für individuelle Betreuung von leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern. Auch hier ergibt sich also ein Potenzial für mehr schülerorientiertes Arbeiten.

 

Christian Spannagel beim Flipped Classroom

Prof. Dr. Christian Spannagel beim Flipped Classroom ©Lutz Berger

 

Woher die Videos nehmen?

Im Flipped Classroom können unter anderem Videos aus dem Internet eingesetzt werden. Darüber hinaus kann die Lehrperson auch die Videos selbst erstellen (wie im Beispiel von Birgit Lachner). Hierzu können Bildschirmvideoprogramme wie beispielsweise HyperCam [5], Jing [6] oder Camtasia [7] eingesetzt werden. Mit diesen Programmen kann mal alles, was auf dem Monitor passiert, aufzeichnen und parallel dazu sprechen. Die Aufzeichnung kann dann gemeinsam mit den Audiodaten als Video abgespeichert und zum Beispiel auf Youtube oder in das schuleigene E-Learning-System wie beispielsweise Moodle hochgeladen werden.

Darüber hinaus lassen sich heutzutage Videos bereits sehr einfach mit Smartphones und digitalen Fotoapparaten erstellen. Bei der Videoproduktion ist es allerdings wichtig, keinen zu großen Perfektionismus walten zu lassen. Dies ist im Schulalltag nicht zu leisten und letztlich auch nicht notwendig.

Vielfältige Einsatzmöglichkeiten für Videos im Unterricht

Eine übliche – berechtigte Kritik – beruht auf der Tatsache, dass viele Lehrerinnen und Lehrer bereits schülerzentrierten Unterricht weitgehend ohne Lehrervorträge machen und gar keine Notwendigkeit sehen, Lehrervorträge auszulagern. Klar ist: Wer schülerzentriert arbeitet, hat von dem „klassischen“ Konzept des Flipped Classroom zunächst keinen Vorteil. Der Flipped Classroom ist eher als weitere Methode zu verstehen, den Unterricht schülerzentrierter zu gestalten, falls er es noch nicht ist. Wenn also eine Lehrperson der Meinung ist, dass sie zu viele Lehrervorträge hält, und wenn sie sich davon gerne befreien möchte, dann stellt der Flipped Classroom eine Möglichkeit (unter anderen) dar, die Unterrichtszeit für mehr Lerneraktivitäten frei zu machen.

Trotzdem gibt es auch für schülerzentrierten, offenen oder individualisierten Unterricht zahlreiche Möglichkeiten, Videos einzusetzen. In einem Workshop mit Berliner Lehrerinnen und Lehrer haben wir vielfältige Ideen zusammengetragen:

    • Im Rahmen von Stationenlernen kann an einer Station ein Computer mit einem Video bereit gestellt werden.
    • Erklärungen können einzelnen Schülerinnen und Schülern flexibel an die Hand gegeben werden, wenn diese sie benötigen (und andere nicht). So können beispielsweise auch Videos differenzierend eingesetzt werden, indem man leistungsstarken Schülerinnen und Schülern zusätzliche Erklärungen mit weiterführenden Konzepten zur Verfügung stellt.
    • Tätigkeiten, die sich nur schwer einer größeren Gruppe demonstrieren lassen, können besser per Video gezeigt werden, wie beispielsweise Faltanleitungen oder Gitarrengriffe. Diese Demonstrationen können dann auch individuell ganz oder abschnittsweise immer wieder wiederholt werden, je nachdem wie schnell Schülerinnen und Schüler die Prozesse nachvollziehen können.
    • Videos mit geschichtlichen Originalaufnahmen oder Tierfilme können von Schülerinnen und Schülern auch zu Hause angesehen werden. Dies eröffnet die Möglichkeit, die unsäglichen „Heute schauen wir mal einen Film“-Situationen aus der wertvollen Unterrichtszeit zu verbannen.
    • Videos mit Erklärungen der Lehrperson können insbesondere auch für Schülerinnen und Schüler von großem Nutzen sein, die kurz- oder längerfristig krank sind. Darüber hinaus können frühere Erklärungen von Schülerinnen und Schülern in späteren Unterrichtssituationen nochmal nachgeschlagen werden („Wie war das damals nochmal?“).
    • Insbesondere in Ganztagsschulen kann der Einsatz von Videos eine Lernaktivität am Nachmittag darstellen.
    • Videos können auch von Schülerinnen und Schülern selbst erstellt und dann anderen Schülerinnen und Schülern zur Verfügung gestellt werden. Hier ergeben sich Chancen für de Einsatz von Konzepten wie Lernen durch Lehren [8] und für den integrierten Erwerb von Kompetenzen in der Medienproduktion.

Vorsicht: Gefahr der „Inputorientierung“

Zum Abschluss soll noch auf ein Problem aufmerksam gemacht werden: Es besteht beim Einsatz des Flipped Classroom die Gefahr, einen zu stark inputorientierten Unterricht durchzuführen.

Anstelle des Ansehens von Erklärvideos sollten Begriffe und Konzepte in vielen Fällen besser von Schülerinnen und Schülern selbst erarbeitet werden (in Einzelarbeit, Gruppenarbeit oder auch in Unterrichtsgesprächen). Begriffserwerb und das Verstehen komplexer Inhalte benötigen oft die aktive Auseinandersetzung mit Situationen und Fragen, in denen die zu erlernenden Konzepte wesentlich sind. Solche reichhaltigen „Erarbeitungssituationen“ sollten auf keinen Fall durch Erklärvideos ersetzt werden.

Keine Methode ist immer gut, sondern im Gegenteil: Methoden müssen hinsichtlich ihrer Eignung bezüglich fachlicher und fachdidaktischer Kriterien ausgewählt werden. Dies gilt natürlich auch für den Einsatz von (Erklär-)Videos. Somit sollten Videos immer dann eingesetzt werden, wenn sie zur Erreichung der Lernziele als das geeignetste Medium erscheinen.

Darüber hinaus können Videos gerade auch die aktive Auseinandersetzung mit einem Gegenstand motivieren. Sie können geeignete zu erforschende Situationen zeigen und Impulse für die eigene Weiterarbeit geben. Diese Idee verfolgen wir zurzeit in unserem MOOC „Mathematisch denken!“, in dem es neben Erklärvideos insbesondere auch Videos gibt, die mathematikhalte Situationen aufzeigen und die zum eigenen Weiterarbeiten anregen [9].

Kleine Schritte – große Wirkung

Wie bei vielen Methoden gilt: Experimentieren ist ausdrücklich erlaubt! Jede Lehrerin und jeder Lehrer kann Methoden wie den Flipped Classroom aus der eigenen Perspektive und dem eigenen unterrichtlichen Handeln heraus für sich weiterentwickeln, Einsatzmöglichkeiten in den jeweiligen spezifischen Kontexten erfinden und auftretende Schwierigkeiten mit kreativen Lösungen meistern. Dabei muss man nicht gleich von Anfang seinen Unterricht komplett umstellen. Im Gegenteil: Es ist bestimmt sinnvoll, erst einmal kleine Schritte zu gehen und mit den neuen methodischen und technischen Möglichkeiten zu spielen.

Dank

Ich danke Janna Spannagel für die kritische Durchsicht und für hilfreiche Verbesserungsvorschläge zu diesem Beitrag.

 

Verweise:

1 Bergmann, J., & Sams, A. (2012). Flip your classroom. Reach every student in every class every day. Eugene, Oregon: ISTE.
2 Handke, J. & Sperl, A. (Hrsg.) (2012). Das Inverted Classroom Model. Begleitband zur ersten deutschen ICM Konferenz. München: Oldenbourg Verlag.
3 Materialien und Informationen zur „Umgedrehten Mathematikvorlesung“ unter
http://tinyurl.com/umgedrehtemathevorlesung
4 Youtube-Kanal von Birgit Lachner: http://www.youtube.com/user/MsBirgi
5 HyperCam: http://de.hyperionics.com/hc/
6 Jing: http://www.techsmith.de/jing.html
7 Camtasia: http://www.techsmith.de/camtasia.html
8 Lernen durch Lehren bzw. LdL nach Jean-Pol Martin unter http://www.ldl.de
9 MOOC = „Massive Open Online Course“; MOOC „Mathematisch denken!“ abrufbar unter
https://www.iversity.org/courses/mathe-mooc-mathematisch-denken

 

Titelbild: © sofatutor.com