Bayern: Arbeitsamt statt Schule ‒ hochqualifizierte Junglehrer sitzen auf der Straße

Statt im Klassenzimmer zu stehen und zu unterrichten, versammeln sich fertige, arbeitslose Referendare zu Flashmobs. Symbolisch wurde auf dem Marienplatz in München Kreide zertreten, vor einer roten Linie als Grenzziehung, die ebenso symbolisch für den Stopp des bayrischen Kultusministeriums steht.

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Über 800 Stellen sollen im Zuge eines Spardiktats vom bayrischen Finanzminister Söder wegfallen. Spardiktat? Bayern? Weiß der Freistaat sonst nicht immer jubelnd von seinen sprudelnden Steuereinnahmen zu berichten und ist dem nicht immer noch so? Haben wir was verpasst? Und haben wir uns die bildungspolitischen Wahlversprechen der CSU nur erträumt ‒ Ausbau von Inklusion, Ganztagsschulen und individueller Förderung. Suggeriert das Wort Ausbau nicht auch die logische Schlussfolgerung eines Mehr statt eines Weniger? Und ist nicht bei jedem Schritt in Sachen Bildung die Qualität ein unabdingbarer Faktor? Aber kann man auf Qualität hoffen, wenn solch groß angelegten Zielen im ersten Schritt mit Stellenkürzungen begegnet werden? Von der Frage nach der Realität der eigentlichen Umsetzung mal ganz abgesehen. Sollte in Sachen Bildung nicht von Investitionen statt immer nur von Kosten gesprochen werden? Wie kann es sein, dass dieses hohe Gut als erste Instanz in Spardiktaten verscheuert wird? Fragen über Fragen, vor deren Hintergrund wir mit dem Präsidenten des Bayrischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV) Klaus Wenzel gesprochen haben.

Kultusminister Spaenle verkündete die Streichung von 830 Stellen ‒ warum?

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Klaus Wenzel: „Er beruft sich auf den Rückgang der Schülerzahlen und auf die Nichteinhaltung der Zusage, dass die demographische Rendite im Schulsystem bleibt, also kurzum: Wir haben in Bayern einen Rückgang der Schülerzahlen und entgegen der Zusagen, die vor der Landtagswahl gegeben wurden, sollen jetzt die Lehrerstellen, die rein rechnerisch frei wären, gekürzt werden. Minister Spaenle hat bei seiner Verkündung von 830 Stellen gesprochen, die Zahl ist mittlerweile aus der Welt, es kursieren ganz unterschiedliche Zahlen. Die Verwirrung ist sehr groß, die Verunsicherung bei den Lehrerinnen und Lehrern ist groß und die Eltern und Bürgermeister sind sauer, weil es keine Planungssicherheit gibt.”

Vor der Verkündung kam ja schon die Hiobsbotschaft, dass selbst die Anstellung von Junglehrern mit Bestnoten nicht gewährleistet ist. Können Sie dazu Näheres sagen?

Klaus Wenzel: „Mitte Januar hieß es bereits, dass Abgänger mit guten und sehr guten Noten keine Stelle bekommen. Wir haben Rückmeldungen von Referendaren mit einem Schnitt von 1,0 erhalten, die keine Anstellung bekommen haben – und das ist einfach deprimierend und demotivierend. Daraus ergibt sich auch eine weitere Sorge, die uns umtreibt, dass es immer weniger Abiturienten gibt, die angesichts solcher Botschaften bereit sind, sich für das Lehramt zu interessieren. Denn eines ist ganz deutlich: Wir bräuchten jede einzelne Lehrerin, die jetzt auf die Straße geschickt wird und jeden einzelnen Lehrer. Ich hab neulich in einem Interview gesagt: Ich werde dem Schulleiter von einer der 5.000 bayrischen Schulen, der mir nachweist, dass er zu viele Lehrstunden hat, mein Weihnachtgehalt von 2013 überweisen – es hat sich noch keiner gemeldet.

Es fehlt hinten und vorne und das Ärgerliche ist, dass es im totalen Widerspruch zu dem steht, was die Staatsregierung nach der Landtagswahl verkündet hat. Sowohl der Kultusminister als auch der Ministerpräsident haben für die Schul- und Bildungspolitik drei große Ziele festgesetzt: die Weiterentwicklung der Inklusion, der Ausbau der Ganztagsschulen und die intensive und individuelle Förderung aller Schülerinnen und Schüler. Doch diese Zielsetzungen, die wir als BLLV sehr unterstreichen, stehen im totalen Widerspruch zu dem, was jetzt passiert. Es muss genau in die andere Richtung gehen, das heißt, wir brauchen erheblich mehr Stellen. In den nächsten fünf Jahren werden wir 20.000 zusätzliche Stellen brauchen, wenn es denn ernst gemeint ist mit den drei bildungspolitischen Zielen.”

Die Opposition wirft der CSU Wahlbetrug vor. Was sagen Sie dazu?

Klaus Wenzel: „Es gibt einen sogenannten Bayernplan der im Landtagswahlkampf eine große Rolle gespielt hat, darin hat die CSU ihre Ziele für die nächsten fünf Jahre festgeschrieben. Im Bereich der Schul- und Bildungspolitik wurde versprochen, dass alle frei werdenden Stellen durch zurückgehende Schülerzahlen im Schulbereich bleiben. Und wenn es jetzt heißt, es werden Stellen gestrichen, egal ob 10, 100 oder 800, dann ist das ein Vorgang, den man durchaus als Wahlbetrug bezeichnen kann.”

Das Paradoxe: Während der Ausbildung sind Referendare offensichtlichich sehr begehrt, zumindest bekommt jeder Studienabgänger einen Referendarsstelle in Bayern. Die Junglehrer fühlen sich jetzt als billige Arbeitskräfte missbraucht. Können Sie diese Haltung nachvollziehen?

Klaus Wenzel: „Das ist ein ganz wichtiger Aspekt, der sehr tragisch ist, weil die jungen Lehrerinnen und Lehrer praktisch ihre eigenen Planstellen wegsparen, weil sie eine so hohe Unterrichtsverpflichtung haben. Eine Referendarin, ein Referendar im Gymniasalbereich unterrichtet im zweiten Jahr momentan 17 Wochenstunden. Der Einsatz von drei Referendaren ergibt 51 Wochenstunden – das sind fast zwei vollwertige Lehrkräfte, die damit ersetzt werden. Daneben leidet die Qualität der Ausbildung, da man sich im Referendariat ebenso mit guter Theorie beschäftigen muss, die dann in der Praxis eine Rolle spielen kann. Es ist nicht Sinn der Sache, die Absolventen als billige Unterrichtshilfen zu missbrauchen. Das geht dann aber eben schon in erhebliche Beträge, wenn eine Referendarin, ein Referendar mit 17 Stunden eingesetzt wird und wenn das dann eben nicht nur drei Mal sondern hunderte Mal passiert, dann haben sie eben dutzende von Stellen eingespart, die eigentlich von fertigen Lehrkräften besetzt werden müssten.”

Wie signifikant ist der Unterschied hinsichtlich des Stundenpensums im Vergleich zu früher?

Klaus Wenzel: „Es ist ein sehr signifikanter Unterschied. Ich war selber 20 Jahre als Lehrer tätig und als ich Mitte der 80er-Jahre als Seminarleiter angefangen habe, waren es im ersten Jahr null Stunden eigenverantwortlicher Unterricht. Man konnte aber im Laufe des ersten Jahres auf Wunsch von null bis sechs Stunden erhöhen. Das hat sich bewährt, weil man sehr individuell beraten und den jungen Kolleginnen und Kollegen sagen konnte – ‚ok, du bist soweit, probier es doch mal mit sechs Stunden‘ und dem anderen hat man geraten, noch ein paar Wochen zu warten. Das wurde dann Schritt für Schritt ausgeweitet. Im zweiten Dienstjahr war es bis vor zehn Jahren noch so, dass man zehn Stunden unterrichtet hat und das war nach meiner Erfahrung das Maximum, denn die Referendare sind ja nochmal ein bis zwei Tage in der Woche im Seminar. Also komprimiert sich das dann schon nur auf drei Tage und da sind zehn Stunden schon sehr viel und bei 17 ist man dann an drei Schultagen voll eingesetzt.”

Ist die Anstellungssituation in anderen Bundesländern ähnlich?

Klaus Wenzel: „Wir haben ganz große Schwierigkeiten in Baden-Württemberg, weil hier eine der ersten Ankündigungen der rot-grünen Regierung erfolgte, dass man tausende Lehrer wird austellen müssen. In Hessen wurde im Vorfeld der Landtagswahlen 2013 ein Paket geschnürt mit dem Ziel, dass möglichst kein Unterricht ausfällt, dort ist man also relativ gut aufgestellt. In den meisten neuen Bundesländern haben wir eine problematische demographische Entwicklung, so dass dort auch nicht der riesen Bedarf vorherrscht.

Ich komme zu dem politischen Schluss: Bayern hat einen guten wirtschaftlichen und ökonomischen Status und wenn Politiker in ihren Sonntagsreden behaupten, dass Bildung so ein wichtiger Politikbereich ist, dann wäre die Konsequenz, dass man einen Teil der zusätzlichen Steuereinnahmen hernimmt. In den nächsten Wochen wird ja der Nachtragshaushalt verhandelt und da wäre es ohne Weiteres möglich, dass der Finanzminister sagt, da geb ich jetzt von den Steuermehreinnahmen 50 Millionen rein, dann haben wir zumindest das Gröbste abgedeckt.”

Kultusminister Spaenle hat die Empfehlung gegeben, die abgewiesenen Junglehrer sollen sich doch Richtung Berlin orientieren. Was halten Sie von diesem Vorschlag?

Klaus Wenzel: „Dazu will ich zwei Dinge sagen. Erstens ist das eine Sache für den Bund der Steuerzahler oder für den Obersten Rechnungshof, denn Bayern hat in diese etwa 600 Referendarinnen und Referendare Millionen investiert ‒ Gott sei Dank! Zweitens glaube ich nicht, dass viele nach Berlin gehen werden, weil Berlin seine Lehrerinnen und Lehrer zur Zeit schlecht behandelt. Sowohl was den Status angeht ‒ es werden in Berlin gerade keine Lehrkräfte verbeamtet – und auch hinsichtlich der Bezahlung. Wenn man die Jahresgehälter eines berliner Grundschullehrers mit denen eines bayrischen Grundschulelehrers vergleicht, dann sind das einige tausend Euro Unterschied.

Das war eine recht fragwürdige Empfehlung, wenn nicht sogar eine zynische. Ich habe eine ganz große Befürchtung in diesem Zusammenhang, nämlich, dass die Wirtschaft sich die Besten holt. Und ausgerechnet die mit dem besten Noten werden aus den Schulen gezogen, wo wir gerade ganz viel Qualität bräuchten im Nachwuchs, denn das Niveau der bayrischen Gymnasien ist in den letzten Jahren gesunken. Und jetzt schickt man die Leute, die nachweislich kompetent sind, auf die Straße oder nach Berlin ‒ das kann ich nicht nachvollziehen.”

Welche Fächer sind besonders gefährdet, in welchen hat man noch Chancen?

Klaus Wenzel: „Also wir haben seit vielen Jahren einen großen Bedarf in den sogenannten MINT-Fächern. Daneben haben wir aber auch seit Jahren eine Sättigung im Bereich Deutsch, Englich, Sozialkunde und Geschichte erreicht.”

Können Sie eine Prognose geben?

Klaus Wenzel: „Wenn ich jetzt Studienabgängern, die ihr erstes Staatsexamen gemacht haben, sage, ’geh’ nicht ins Referendariat, du wirst sowieso nicht gebraucht’, dann ist das sehr gewagt. Vielleicht braucht man in zwei Jahren tatsächlich schon wieder mehr Lehrkräfte. Wir verzeichnen in Bayern eine große Zuwanderung, da kann sich die Situation innerhalb von zwei Jahren schnell ändern. Ich erinnere nur daran, dass es vor vier Jahren eine Anstellungmöglichkeit für alle Referendarinnen und Referendare mit einer Note bis zu 3,5 gab. Da muss ja heute einer mit einer Note von 1,2 oder gar 1,0 verzweifeln. Nur weil man ein günstiges Geburtsjahr hat, wird man im Jahr 2010 mit einem Schnitt von 3,5 übernommen und im Jahr 2014 nicht mal mit einer 1,0. Und letztlich, es ist natürlich nicht so, dass keine Lehrer gebraucht werden. Der Kultusminister betitelt die Kombination Deutsch und Geschichte oder Englisch und Sozialkunde als ungünstig, aber auch die brauchen wir an den Schulen. Es ist eine Frage der politischen Schwerpunktsetzung, also will ich das Geld ausgeben oder nicht. Und deswegen sollte man nie sagen, wir haben zu wenig Lehrer, sondern zu wenig Bereitschaft in der Politik Geld auszugeben, um diese Lehrer anzustellen.

Wenn die bayrische Staatsregierung ihre Ziele ernst nimmt, dann brauchen wir viele Lehrkräfte. Ich hoffe sehr, dass diese Unruhe, die wir in diesen Tagen verspüren, dazu führt, dass es zu einer höheren Sensibilisierung kommt. Es werden viele Abgeordnete in ihren Bezirken mit Fragen konfrontiert, wie dieser Zustand sein kann. Und nachdem der Haushalt nicht von der Staatsregierung sondern vom Landtag beschlossen wird, ist meine Hoffnung, dass dann der Landtag notwendigen Investitionen zustimmt. Und irgendwoher muss ja auch Geld kommen, es war ja schließlich auch da, als die bayrische Landesbank in den Sand gesetzt wurde.”

Ist es also, auf den Punkt gebracht, ein reines Finanzproblem?

Klaus Wenzel: „Nur! Es hat mit dem Bedarf nichts zu tun. Wir brauchen Lehrer mit allen Kombinationen, auch Deutsch-Geschichte. Es ist nur ein Finanzproblem, bzw. eine falsche Schwerpunktsetzung.”

Nochmal zum Abschluss, als Appell sozusagen: Würden Sie jetzigen Studienabsolventen des Lehramts empfehlen, sich erstmal auf die freie Wirtschaft zu konzentrieren, bevor nach dem Referendariat nur die Arbeitslosigkeit auf sie wartet?

Klaus Wenzel: „Es ist nach wie vor so, dass der Lehrerberuf ein sehr schöner Beruf ist, auch ein sehr anstrengender und manchmal auch aufreibender. Wenn sich jemand entschieden hat, das Lehramt zu studieren und zehn oder gar zwölf Semester absolviert hat, dann empfehle ich ihm oder ihr dringend, das Studium abzuschließen und das Referendariat zu durchlaufen und hoffe, dass jene dann am Ende auch dort hinkommen, wo sie gebraucht werden. Sie werden nicht auf den Gängen des Arbeitsamtes gebraucht und auch nicht in der freien Wirtschaft, sondern in der Schule.”

Vielen Dank für das Gespräch

Titelbild: ©racon/shutterstock.com