Flipped Classroom ‒ Kontext statt Content

Nicht nur den Lernstoff vermitteln, sondern seinen Schülerinnen und Schülern auch Kontexte an die Hand geben, ihnen zeigen, wie sie das Lernen lernen, ist das, was sich Brain E. Bennett, Lehrer für Biologie und Chemie an der William Henry Arizona High School in Evansville (Indiana, USA), auf die Fahnen seiner Lehrtätigkeit geschrieben hat. Mit dem Anwenden des Flipped Classroom-Modells oder auch Inverted Classroom-Modell (ICM), dem umgedrehten Unterricht, ist ihm das möglich. Auf der Inverted Classroom-Konferenz in Marburg berichtete er in seinem Workshop Das ICM aus der Schülerperspektive über seine Erfahrungen. Und darüber haben auch wir mit ihm gesprochen.

So klappt's mit dem Lernen – jetzt im Video anschauen!

Herr Bennett, Sie sagten in Ihrem Workshop Das ICM aus der Schülerperspektive auf der Inverted Classroom-Konferenz in Marburg den Satz: „Ein Raum voller Menschen ist schlauer als ich allein.“ Was wollten Sie mit diesem Satz aussagen?

Brian E. Bennett: „Mit dem Satz ‚Ein Raum voller Menschen ist schlauer als ich‘ nehme ich auf die Idee Bezug, dass unsere kollektiven Erfahrungen mehr relevante Antworten auf Fragen bereit halten, als ich alleine geben kann. Das ist die Bildung von heute … durch das Internet ist die Menge des kollektiven Wissens riesig und es ermöglicht den Lehrerinnen und Lehrern sowie den Schülerinnen und Schülern aus diesen zur Verfügung stehenden Informationen zu schöpfen aber auch Informationen hinzuzufügen.“

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Was soll oder kann ein Lehrer oder eine Lehrerin tun, um sicherzustellen, dass das Klassenzimmer und der Unterricht dort noch immer wichtig sind?

Brian E. Bennett: „Es ist wirklich schwer, diese Frage zu beantworten, denn das ist für jeden anders. Die große Idee ist, dass die Zeit im Klassenraum einen Wert anbietet, der durch andere Mittel nicht erreicht werden kann. Mit dem ICM ‒ also die Inhalte durch die Videoform vermittelt werden ‒ können sie nicht erwarten, dass die Schülerinnen und Schüler in die Klasse kommen, um sich das Ganze noch einmal anzuhören. Dann gibt es für sie keinen Grund, in die Schule zu kommen, denn die Inhalte können sie sich auch außerhalb des Klassenzimmers beibringen. Die Zeit mit Ihnen als Lehrer oder Lehrerin muss sich von dem unterscheiden: Vielleicht als Eins-zu-Eins-Hilfe. Vielleicht durch praktische Anwendungen z. B. Labore, Fallstudien usw.. Vielleicht ist es auch etwas anderes … Ich kann das nicht für alle Lehrerinnen und Lehrer beantworten. Was in jedem Fall im Klassenzimmer passieren muss, ist, dass das Augenmerk nicht nur auf dem Lerninhalt liegt, sondern auf der Anwendung des Gelernten.“

Was würden Sie Lehrerinnen und Lehrern raten zu tun, wenn die Schülerinnen oder Schüler die Videos zu Hause nicht angeschaut haben?

Brian E. Bennett: „Ich erwähnte in meinem Workshop, dass es mich nicht wirklich stört, wenn ein Schüler oder eine Schülerin die Videos vor dem Unterricht nicht angeschaut hat. Ich werde nicht beaufsichtigen, wo und wann sie sich für das Lernen entscheiden. Ich würde mich eher auf die größeren Dinge konzentrieren, auf die Bereitschaft, auf das Zeitmanagement und auf Verantwortung. Meine Videos sind mit Absicht kurz, damit sich Schülerinnen und Schüler den Inhalt zur Not auch während der Stunde anschauen können und nur fünf bis acht Minuten vom Unterricht verpassen.“

Was würden Sie sagen, sind die wichtigsten Elemente des Unterrichtens mit dem Flipped Classroom-Model?

Brian E. Bennett: „Das Unterrichten heute – und damit meine ich nicht nur das umgedrehte Unterrichten – muss ermöglichen, dass die Schülerinnen und Schüler die Informationen selbstständig finden, die sie zum Lernen benötigen. Die Rolle des Lehrers oder der Lehrerin ist es dabei, dem Schüler oder der Schülerin zu helfen, die gefundenen Inhalte und Informationen zu organisieren und zu verstehen.

Dabei entwertet das Internet nicht die Rolle des Lehrers oder der Lehrerin im Klassenraum, sondern zeigt, wie wichtig sie ist. Denn anstatt nur Informationen bereitzustellen, kann ich nun meine Zeit dafür nutzen, mit den Schülerinnen und Schülern gemeinsam zu lernen.“

Brian Bennett dreht seinen Unterricht um

Brian Bennett dreht seinen Unterricht um © Brian Bennett

In Ihrem Workshop sagten sie außerdem, dass Schülerinnen und Schüler das „Scheitern an einem sicheren Ort“ lernen müssen. Können Sie das ein bisschen genauer erklären?

Brian E. Bennett: „In den USA gibt es zurzeit eine große Debatte über das ‚Alles-beim-ersten-Mal- richtig-machen‘. Einige Bildungskritiker haben Angst, dass Schülerinnen und Schüler, denen es erlaubt ist, beim Lernen mehrere Male Fehler zu machen, nicht probieren oder den Wert nicht erkennen, etwas beim ersten Mal richtig zu machen.
Aber betrachten wir einmal das Beispiel des Fahrradfahrenlernens: Das Herunterfallen spornt einen an, es zu lernen und richtig zu machen. Du wirst nicht faul, sondern versuchst es wieder und wieder … du hast also gelernt, etwas richtig zu machen auf der Basis des Scheiterns.

Die Schule muss die gleiche Einstellung zum Lernen haben. Ich erwarte nicht von meinen Schülerinnen und Schülern, dass sie gleich beim ersten Mal alle Inhalte und Informationen beherrschen. Sie müssen Fehler machen dürfen – nicht notwendigerweise in Klausuren, nur im Allgemeinen –, um es später richtig zu machen. Meine Rolle als Lehrer ist es, ihnen zusätzlich zu den Lerninhalten einen Kontext zu geben, bei Fehlern zu helfen, den Schülerinnen und Schülern beizubringen ihre Lernprozesse zu reflektieren und sie zu ermutigen, es immer wieder zu probieren.”

Sie sagten, eine wichtige Aufgabe der Lehrerin oder des Lehrers ist es, den Lernenden „einen Kontext und nicht nur Inhalte“ zu geben. Wie könnte das praktisch aussehen?

Brian E. Bennett: „Lassen Sie mich ein Beispiel geben. Ein Hauptbestandteil im Fach Biologie ist das Studium der DNA und wie unsere Körper Proteine bauen, damit sie normal funktionieren können. Ich als Lehrer kann natürlich die ganze Unterrichtseinheit damit verbringen, über Moleküle und über die Vorgänge zu sprechen. Stattdessen lernen jedoch meine Schülerinnen und Schüler diese Lerninhalte, also die Namen der Moleküle usw., mithilfe des Internets und meinen Videos. Es gibt hunderttausende Internetseiten und Materialien, die ihnen die Mechanismus der Genetik erklären können.

Meine Rolle in der Klasse ist es, die Lernenden aufzufordern, die Verbindung zwischen den Informationen zu ziehen. Spreche also mit ihnen darüber, wie sich die Struktur der DNA auf die Funktion bezieht, die sie in den Zellen hat. Der Kontext, also das größere Bild, ist das, was ich meinen Schülerinnen und Schülern gebe.”

Sie betonten in Ihrem Workshop ebenfalls den Satz: „Sprechen Sie mit jedem Lernenden jeden Tag.“ Können Sie seine Wichtigkeit erklären?

Brian E. Bennett: „ ‚Spreche Sie jeden Tag mit jedem Lernenden‘ ist das Ziel, aber ich bin mir bewusst, dass es nicht möglich ist, wenn Sie sich in einem Hörsaal mit 300 Studenten befinden. Davon abgesehen sollte Ihr Ziel sein, sicher zu stellen, dass jeder Schüler und jede Schülerin oder jeder Student und jede Studentin weiß, dass Sie sich um ihn oder sie kümmern. Versuchen Sie ihre Namen und ihre Gewohnheit zu kennen … geben Sie ihnen das Gefühl, dass Sie für sie nur das Beste wollen und Ihnen das am Herzen liegt. Praktisch ist das nicht jeden Tag möglich, aber es ist sicherlich besser möglich eine gute Beziehung zu seinen Schülerinnen und Schülern mit dem ICM aufzubauen, als in der traditionellen Umgebung.“

Wie beliebt ist das ICM in den USA? Wird dort regelmäßig auf diese Weise unterrichtet?

Brian E. Bennett: „Das ICM wird von Jahr zu Jahr beliebter. Ich habe keine Statistik und keine Studie vorliegen, die das bestätigen könnten, aber wenn man sich die Zahlen der Sitzungen zum ‚Flipped- Learning‘ auf regionalen und nationalen Konferenzen ansieht, ist diese in den letzten fünf Jahren deutlich gestiegen.Wir haben noch nicht den 100%-ig richtigen Weg gefunden, aber mit so vielen Menschen, die versuchen, das Verfahren anzuwenden und die Erfahrungen zu teilen, werden wir das schaffen.“

Sie stehen in ständigem Kontakt zu deutschen Lehrerinnen und Lehrer, die das Flipped Classroom-Modell umsetzen. Was denken Sie ist der Unterschied zwischen den USA und Deutschland in Bezug auf das Flipped Classroom-Konzept?

Brian E. Bennett: „Das ist etwas, womit ich noch zu kämpfen habe. Die deutschen Datenschutzbestimmungen sind in den Vereinigten Staaten nicht wirklich präsent. Unsere Bedenken sind Klausuren auf bundesländlicher sowie nationaler Ebene und steigende Anforderungen an Lehrerinnen und Lehrer. Aber davon abgesehen, denke ich, können wir voneinander lernen.
Das ICM hat mich dazu gebracht, über das Unterrichten in verschiedenen Zusammenhängen nachzudenken, z. B. bezüglich Privatsphäre, Klassengröße, Zweck der Schule. Das macht mich zu einem besseren Lehrer in den USA. Ich hoffe, dass Deutsche und Amerikaner sich darüber austauschen, was am besten funktioniert und dass wir Ideen zur Verbesserung des Schulalltags daraus ziehen können.“

Das Interview wurde in englischer Sprache geführt und von der Online-Redaktion ins Deutsche übersetzt.

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