Das Klassenbuch – die Heilige Schrift der Lehrkräfte

An der Schule von Maximilian Lämpel ist ein Klassenbuch verschwunden. „Na und?“, sagen die einen. „Vollkatastrophe!“, die anderen.

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Das heilige Buch

„Na, haben Sie die Holyge Bimbel aus dem Sekretariat geholt?“, begrüßt mich Julian aus der 9c vor Beginn der ersten Stunde und guckt mich fragend an. Weil ich fragend zurück gucke, erklärt er mir, dass in der 9c das Klassenbuch jetzt „Holyge Bimbel“ genannt werde. (Gruß an dieser Stelle von der 9c an Herrn Shapira). Den Vergleich mit der Bibel fände ich leicht übertrieben, erkläre ich Julian, woraufhin er sagt, dann solle ich mal mit dem Mathelehrer Herrn P. reden. Der soll sich neulich unheimlich echauffiert haben, als er gesehen habe, wie zwei Mitschüler in der kleinen Pause im Klassenbuch geblättert haben. Datenschutz oder so was. Und ob ich nicht wisse, dass das Klassenbuch der 9a seit vorgestern spurlos verschwunden sei. Die Klassenlehrerin laufe seitdem blass wie ein Schneemann durch die Gänge. Das müsse ich doch bemerkt haben. Kurz werde ich unruhig, weil ich befürchte, das Klassenbuch versehentlich eingesteckt zu haben. Habe ich doch die Klasse vorgestern in der siebten unterrichtet. Und es wäre nicht das erste Mal, dass mir das passiert. Kann zum Glück aus verschiedenen Gründen nicht sein, ist aber Anlass genug, mir mal Gedanken über das Wesen dieses Buches zu machen.

Dokumentation

Was passiert eigentlich, wenn das Klassenbuch der 9a verschwunden bliebe? Ich habe keine Ahnung und merke, dass mir das ganz schön egal ist. Von Bibel-Gefühlen keine Spur. Die Klassenliste vorne ist völlig uninteressant, welcher Lehrkörper welches Fach unterrichtet ebenfalls. Diese Infos gibt es auch im Sekretariat und online. Gleiches gilt für die Fehlzeiten, Verspätungen usw., die bei uns in die Computer im Lehrerzimmer eingetragen werden. Was bleibt, sind Belehrungen und Einträge. Sowas muss ja dokumentiert werden, man weiß ja nie. Ebenso verhält es sich mit den Eintragungen über den vermittelten Unterrichtsstoff. Muss man eintragen, guckt sich aber nie jemand an.
Ich will die Bedeutung des Klassenbuches gar nicht runterspielen, denn wer weiß, was passiert, wenn etwas passiert. Im Zweifel geht es immer um Justiziabilität, so lernt man es im Referendariat; wenn es zu Rechtsstreitigkeiten käme, würde das Klassenbuch schlagartig relevant werden. Letztlich führe ich deshalb das Klassenbuch meiner Klasse einigermaßen gründlich, na ja, meistens zumindest. An meiner Schule hat sich diesbezüglich noch nie etwas ereignet. Wer aber Geschichten kennt, in denen das Klassenbuch in Rechtsfragen worüber auch immer entschieden hat, sage mir bitte Bescheid. Gibt es bestimmt.

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Verbeißungsproblem

Ich finde dennoch, dass man es mit der Korrektheit übertreiben kann, wie das Beispiel des eingangs erwähnten Kollegen P. illustriert. Herr P. ist ein Pedant und die Korrektheit in Person. Das sehen nicht nur die 9c und ich so, sogar der Schulleiter rollt ab und an die Augen. Insofern passt sein inniges Verhältnis zum Klassenbuch gut ins Bild. Als er vor Jahren mal einen Fünftklässler beim Versuch erwischte, mit Tintenkiller den Vermerk über seine Verspätung im Klassenbuch zu löschen, wurde P. – eigentlich kein Choleriker – so böse, dass der Kleine lange weinte.
Und schon mehrmals hat P. mich mit hochrotem Kopf aufgesucht, weil ich angeblich nicht die einem Klassenbuch angemessene Sorgfalt an den Tag gelegt hätte. Einmal hatte ich schlicht vergessen einzutragen, ein andermal hatte ich versäumt mit Kürzel zu unterschreiben, kann ja wohl mal passieren. Und ein paar Monate später, das Schuljahr hatte gerade begonnen, fehlte im Klassenbuch meiner 10b die Eintragung, wer denn nun das Klassensprecheramt inne hat. Ogottogott.
Weil P. sich in den letzten Jahren immer wieder von Burnout zu Burnout hangelt, finde ich das einigermaßen tragisch. Ich will keinem Klassenbuch der Welt unterstellen, Lehrkräfte krank zu machen. Aber Kollege P. hat sich darin verbissen. Und Verbeißen ist ungesund, weiß man doch. Ich bekomme jedenfalls regelrechte Mitleidsattacken, wenn er mir wieder hinterherläuft, weil ich irgendwelche Klassenbuchregeln missachtet habe. Man müsste mit ihm mal ein ernstes Gespräch über die Schattenseiten von Perfektionismus und über das Konzept des Prioritätensetzens führen, scheint ihm alles vollkommen fremd zu sein.

Klassenbuch = Lehrkörperüberwachung

Ein anderer Kollege, Herr C., geht den entgegengesetzten Weg. Ganz ernsthaft hat er mir mal erklärt, Klassenbücher seien letztlich eine Art Lehrkörperüberwachungsdossier. Das lasse er nicht mit sich machen. Er habe seinen Weg gefunden, dem System ein Schnippchen zu schlagen. Er wolle sich nicht kontrollieren lassen. Deshalb schreibe er einfach immer ein bis zwei Wörter in die dafür vorgesehenen Felder, absichtlich vollkommen unleserlich und niemals wirklich zum Inhalt der Stunde. So mache er das schon seit Jahren. Nie habe ihn jemand darauf angesprochen, geschweige denn etwas beanstandet. Klingt dubios bis bescheuert, passt aber zu Herrn C. Er hält auch Hausaufgaben und die Fußball-Bundesliga für Unterdrückungsinstrumente, ich weiß nur noch so halb warum.
Jetzt, wo ich so an Herrn P. und Herrn C. denke, stelle ich mir vor, wie ich die beiden mal zusammen in einen Raum stecke. Ich würde ein Klassenbuch zwischen sie legen, fragen was sie dazu sagen, dass das Buch der 9a verloren gegangen sei, und dann gucken, was passiert.

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Titelbild: © areebarbar/shutterstock.com