MSA – Der Mittelmäßige Schulabschluss

Für die Zehntklässlerinnen und -klässler an Maximilian Lämpels Schule ging es in den letzten Wochen so richtig zur Sache. Die Präsentationsprüfungen des MSA standen ins Haus.

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Der MSA-Trick

Es ist kein Geheimnis: Berliner Schülerinnen und Schüler schneiden bei Vergleichsarbeiten zuverlässig schlecht ab. Für die Verantwortlichen im Senat gäbe es eigentlich verschiedene Optionen damit umzugehen. Die naheliegendste Lösung wäre vermutlich, ordentlich zu investieren, bessere Infrastruktur, Digitalisierung, mehr Einstellungen usw. Ist in Berlin aber so eine Sache mit dem Geld, deshalb hat man sich auf eine einfachere Variante verlegt: Tricksen. So würden z. B. an allen Ecken und Enden die Anforderungen gesenkt – so behaupten Kritikerinnen und Kritiker. Plötzlich gäbe es viel mehr richtig gute Schülerinnen und Schüler. Und tatsächlich hat sich die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die ein 1,0-Abitur machen, seit 2006 verfünffacht. Finde ich irgendwie verdächtig.
Zu diesen Tricksereien gehöre auch, dass man die einst miserablen Ergebnisse des Mittleren Schulabschlusses nach der zehnten Klasse (MSA) aufhübsche, indem auch die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten die MSA-Prüfungen ablegen mussten. Das ist in den meisten Bundesländern keineswegs gängige Praxis. Schwups, schon sah die Statistik viel besser aus. Ich habe keine Ahnung, ob ich nun als willfähriges Instrument für die Tricksereien des Senats fungiere. Das ist mir aber ehrlich gesagt fast egal. Das liegt daran, dass ich ein Fan der Präsentationsprüfungen bin. Diese gehören neben den Klausuren und mündlichen Prüfungen zum MSA.

Feierlicher Ernst

Meine Haltung hat ganz eigennützige Gründe, denn die Präsentationsprüfungen heben sich wohltuend vom grauen Schulalltag ab. Genau wie in der Abiturphase liegt feierlicher Ernst in der Luft. Jetzt fühlt es sich für viele so richtig wichtig an. Manche Schülerinnen und Schüler sind extrem angespannt und viele ziehen sich ganz ungewohnt an, das ist fast rührend. Die Themen der Präsentationen, die sich die Schülerinnen und Schüler selber suchen, weichen vom normalen Unterrichtsstoff ab. Nicht selten ist das skurril, meistens ist es unterhaltsam und oft lehrreich. Im besten Fall ist so ein MSA-Vortrag wie ein kleine Weiterbildungsmaßnahme für Lehrkräfte oder eben eine neue Lektion in unnützem Wissen.
Erfahrungsgemäß beschäftigen sich die Jugendlichen über Wochen und Monate mit ihrem Thema, was oft dazu führt, dass dies ihre Herzensthemen werden und sie sich mit ihnen identifizieren. Manchmal verbeißen sie sich regelrecht. Allein, weil sie merken, dass sie auf ihrem Gebiet Experten sind, gewinnen sie an Selbstbewusstsein. Das ist manchmal richtig schön anzusehen. In Einzelfällen passiert es sogar, dass sie während des Prüfungsgesprächs merken, dass sie von der Thematik mehr Ahnung haben als die Prüferinnen und Prüfer. Kein Wunder, manchmal sind die Themen so exotisch, dass sich der Kenntnisstand der Prüfungskommission bestenfalls auf das Überfliegen eines Wikipedia-Artikels beschränkt.

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Reifungskatalysator

Außerdem wachsen die Schülerinnen und Schüler unheimlich an ihrer Aufgabe. Wer in seiner Prüfungsgruppe oder mit sich selbst während der Vorbereitung immer wieder um Thema, Leitfrage, Gliederung und Urteil gerungen hat, ist gut gewappnet für die Kämpfe der Oberstufe, ach, was sage ich: für die Kämpfe des Lebens. Wer die Erfahrung macht, auch mal Nächte durchmachen zu müssen, in voller Verzweiflung dann alles umgeworfen hat und von vorne starten muss, der macht einen Reifungsprozess in Schnellzeit durch. Im besten Fall.
In diesem Jahr gab es bei uns wieder brillante Vorträge und aufblühende Schülerinnen und Schüler. Das war wirklich schön. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass drei Jungs durchgefallen sind und es ein Drama gab, das aus der unguten Kombination von Brechen mit anschließendem Umkippen bestand. Könnte man alles erzählen, aber ich will lieber die Geschichte von Konstantin loswerden.

Konstantin

Konstantin ist vor zwei Jahren sitzen geblieben und geht seitdem in meine Klasse. Er leidet schon sehr lange an Schulangst und fehlt öfter, als er da ist. Obwohl er schlau ist, sind deshalb seine Noten im Keller und wenn man sich mit ihm unterhält, wird schnell klar, dass Schulangst nicht sein einziges Problem ist. Dass sein alleinerziehender Vater seit kurzem arbeitslos ist und in jedem Elterngespräch schnell vollkommen verzweifelt wirkt, macht es nicht leichter. Ich könnte noch sehr viel weiter ausholen, aber kurz gesagt: Ich hatte mir vorgenommen, Konstantin zu helfen und ihn irgendwie durch diese Prüfung zu bringen. Weil er zu den festgelegten Vorbesprechungsterminen nicht in der Schule war und das Halten von Vorträgen für ihn die größte Hürde darstellt, schwante mir nichts Gutes.
Blöderweise wurde mir als Mitprüfer dann Kollege T. zugeteilt, der ohne Frage irre kompetent ist, was bei ihm aber bedauerlicherweise dazu führt, fragwürdige Maßstäbe anzulegen. Tja, und pädagogisches Fingerspitzengefühl hält er grundsätzlich für Verrat am Leistungsprinzip. Die Ausgangslage war also denkbar düster. Eine Woche vor der Prüfung habe ich Konstantin dann auf dem Schulhof beiseite genommen, gefragt, ob er noch Beratungsbedarf habe und ihm dann etwa sieben Fragen zum Prüfungsthema gestellt, versehen mit dem Hinweis, er könne sich diese ja mal merken. Das hat sich angenehm subversiv angefühlt. Eine Woche später hat er dann im Prüfungsgespräch genau diese meine Fragen ausgezeichnet beantwortet. Meine Aktion hätte er aber gar nicht nötig gehabt, schon sein Vortrag war exzellent. Genau genommen so exzellent und obendrein gespickt mit Formulierungen, die eigentlich typisch für Kollege T. sind, dass in mir schnell ein Verdacht aufkeimte. Traue mich aber nicht Kollege T. darauf anzusprechen. Niemals würde ich ihm Verrat am Leistungsprinzip unterstellen.

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Titelbild: © Yulia Grigoryeva/shutterstock.com