Flipped Classroom in Norwegen ‒ eine Lehrerin erzählt
Die norwegische Lehrerin Anne Cathrine Gotaas erzählt von ihrem Flipped-Classroom-Unterricht und verrät, wie digital Norwegens Lehrer sind. Sie ist mit sofatutor und weiteren Europäischen Partnern im Projekt FLIP – Flipped Learning in Praxis tätig, das den Flipped Classroom im europäischen Kontext untersucht.
Das Projekt wird unterstützt vom ERASMUS+ Programm der Europäischen Kommission.
Frau Gotaas, Sie unterrichten seit 2008 nach dem Flipped-Classroom-Konzept. Wie haben Sie davon erfahren?
Anne Cathrine Gotaas: „An meiner Uni hatten wir einen Mathekurs, der fast ausschließlich über Videos stattfand. Den Professor haben wir insgesamt nur viermal persönlich gesehen. Ich habe mich dann daran gewöhnt, mit Videos zu lernen. Man kann es anhalten, zurückspulen, erneut ansehen. Ich war fasziniert, von dieser Art zu lernen.
Als einige meiner Schüler in Mathe nicht hinterherkamen und mich fragten, ob ich alte Themen wiederholen könnte, kam ich auf die Idee, ein Video zu machen. So konnten sie sich erneut mit dem Thema auseinandersetzen und ich konnte mit dem Unterrichtsstoff fortfahren.”
Sie arbeiten an der Sandvika High School in der Nähe von Oslo. Ist der komplette Unterricht umgedreht?
Anne Cathrine Gotaas: „Nein, hauptsächlich bin ich es, die mit dem Flipped-Classroom-Konzept unterrichtet. Einige Lehrer verwenden meine Videos in ihrem Unterricht oder gestalten einzelne Stunden nach dem Prinzip. Aber es gibt genauso viele Lehrer, die sich dagegen wehren.”
Ist das Flipped-Classroom-Konzept bekannt in Norwegen? Oder anders gesagt: Wie digital sind Norwegens Lehrerinnen und Lehrer?
Anne Cathrine Gotaas: „Das ist von Schule zu Schule und vor allem von Lehrer zu Lehrer unterschiedlich. Die größte Herausforderung des Flipped-Classroom-Konzepts an der Schule ist die technische Barriere. Viele Lehrer denken, dass sie zu groß sei und sperren sich gegen das Konzept.”
Ihr Hauptfach ist Mathematik. Wie sieht eine übliche Unterrichtsstunde bei Ihnen aus?
Anne Cathrine Gotaas: „Die meisten Schüler schauen sich das Video zu einem bestimmten Thema zu Hause an. Doch es gibt immer jemanden, der es vergessen hat oder etwas Besseres zu tun hatte ‒ da haben die Schüler immer die besten Ausreden parat. Deswegen schaut sich jeder das Video im Unterricht nochmal mit Kopfhörern an.
Manchmal ziehe ich es vor, das Video nur im Unterricht zu zeigen. Dann kann ich nämlich nachverfolgen, wer das Thema wie schnell verstanden hat und teile die Schüler dementsprechend in Gruppen ein. Die Schnelleren machen schwierigere Aufgaben, mit den anderen gehe ich den Stoff nochmal durch.”
Mittlerweile sind Sie eine Flipped-Classroom-Expertin. Sie bloggen über Ihre Arbeit und haben ein Buch über Ihre Erfahrungen geschrieben. Was sind Ihrer Meinung nach die größten Vorteile des Flipped-Classroom-Konzepts?
Anne Cathrine Gotaas: „Der größte Vorteil ist, dass alle Schüler in ihrem eigenen Tempo lernen können. Und ich habe mehr Zeit in der Unterrichtsstunde. Anstatt frontal zu unterrichten und nur zu reden, kann ich mich um einzelne Schüler kümmern.”
Und was sind die Nachteile?
Anne Cathrine Gotaas: „Ein Problem sind faule Schüler, die die Videos nicht anschauen. Aber mit solchen Schülern gibt es immer Nachteile ‒ egal, welche Unterrichtsform man wählt. Der größte Nachteil ist, dass man die Reaktionen der Schüler nicht sieht, wenn sie sich ein Video anschauen. Wenn ich an der Tafel stehe und etwas Neues erkläre, kann ich in den Gesichtern ablesen, ob sie es verstanden haben.
Außerdem dauert es immer ein bisschen, bis die Schüler mit dem Flipped-Classroom-Unterricht zurecht kommen. Wenn ich eine neue Klasse bekomme, muss ich das Konzept neu erklären und in den ersten Woche aufpassen, dass jeder seine ‚Hausaufgaben‛ macht.”
Wie finden Ihre Schüler den Flipped Classroom?
Anne Cathrine Gotaas: „Die meisten Schüler mögen es. Aber ein paar Schüler haben mir erzählt, dass sie lieber im Buch nachlesen. Ich kann das verstehen. Bei einem einfachen Stoff lese ich es mir auch lieber schnell durch. Wenn das Thema aber komplizierter ist, finde ich ein Video besser.
Manche Schüler beschweren sich: ‚Frau Gotaas, in Ihrer Klasse müssen wir immer so viel arbeiten.’ Natürlich ist es einfacher, sich einfach zurückzulehnen und jemandem zuzuhören. Aber man lernt einfach viel besser, wenn man selbst aktiv ist.”
Haben Sie positive Veränderungen im Lernverhalten Ihrer Schülerinnen und Schüler bemerkt?
Anne Cathrine Gotaas: „Das ist schwierig zu sagen, da ich jedes Jahr eine neue Klasse bekomme. Ich kann also schlecht vergleichen, wie sie ohne und mit Flipped Classroom lernen. Einige Schüler allerdings, die versetzungsgefährdet waren, haben mir erzählt, dass sie ohne die Videos durchgefallen wären. Sie brauchten die Möglichkeit, ein Video zwei-, dreimal anzuschauen, bis sie es verstanden haben.
Das ist ein richtig wichtiges Feedback für mich. Schlaue Schüler kommen immer durch. Es sind die, die etwas länger brauchen, die man mitreißen muss. Und die schnellen Schüler können dann schon Videos von der Universität anschauen. So kann ich meinen Unterricht differenzieren.”
Vielen Dank für das Interview!
Das Interview wurde in englischer Sprache geführt und von der Online-Redaktion ins Deutsche übersetzt.
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