Gut gebildet statt sozial benachteiligt ‒ das etwas andere Schulkonzept
Macht man sich auf den Weg zum Sozialunternehmen Quinoa in Wedding, wird schnell deutlich, dieser Stadtteil Berlins ist bunt und gleichzeitig grau, hektisch aber auch gelassen und unterscheidet sich somit kaum von einigen anderen Stadtteilen Berlins. Stefan Döring, der zusammen mit Fiona Brunk das Unternehmen Quinoa ins Leben rief, erklärte uns, was den Stadtteil Wedding so besonders macht und warum er gerade hier mit seinem Team eine Stadtteilschule für sozial benachteiligte Kinder gründet.
Sie gründen zusammen mit Ihrem Team hier im Wedding eine Sekundarschule für sozial benachteiligte Kinder. Wie definieren Sie „sozial benachteiligt”?
Stefan Döring: „Sozial benachteiligt sind Kinder, die in Transferleistungsempfängerhaushalten aufwachsen. Das heißt salopp gesagt: Das sind Kinder, die in Hartz-VI-Empfängerfamilien leben. In Wedding sind das Zweidrittel aller Jugendlichen unter 15 Jahren. Und Deutschland ist eines der OECD-Länder, in dem der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungsmisserfolg am stärksten ausgeprägt ist. Unserer Meinung nach darf die soziale Herkunft nicht darüber entscheiden, welche Chancen jemand zukünftig im Leben hat.”
Können Sie Gründe nennen, warum gerade diese Kinder weniger Chancen auf einen guten Schulabschluss und eine Berufsausbildung haben als andere?
Stefan Döring: „Die Gründe sind vielfältig. Hier im Wedding fällt die soziale Armut ganz häufig mit Migrationshintergrund zusammen. Das ist in vielen anderen Stadtteilen Berlins anders.
Dass diese Kinder nicht dieselben Chancen haben wie andere bzw. am Schulsystem scheitern, liegt oftmals daran, dass sie mit einer Mischsprache aufwachsen. Die Kinder werden somit mit Deutschsprachdefiziten eingeschult, leiden jedoch gleichzeitig auch an Sprachdefiziten in ihrer Muttersprache. Wir nennen dieses Phänomen eine ‚doppelte Halbsprachigkeit‘. Es wissenschaftlich erwiesen, dass sich die Sprachdefizite negativ auf den Lernerfolg auswirken, denn über Sprache funktioniert das Lernen.
Darüber hinaus kennen diese Familien ganz häufig das deutsche Bildungssystem nicht. Das heißt nicht, dass sie kein Interesse an der Bildung ihrer Kinder haben, sondern sie besitzen ein anderes kulturelles Verständnis von Schule: Sie denken, der Staat kümmert sich um die Bildung und die Familie ist für die Erziehung verantwortlich. In Deutschland ist es jedoch so, dass die Kinder, die gut in der Schule sind, sehr viel Unterstützung durch die Familie oder Nachhilfe erhalten. Diese Eltern können ihre Kinder nicht unterstützen, da sie teilweise diese Zusatzhilfsystem nicht kennen und gleichzeitig stellt die Sprachbarriere eine Hemmschwelle für sie dar, in den direkten Kontakt mit der Schule zu treten. Oftmals stehen bei den Eltern dieser Kinder außerdem existenzielle Themen im Vordergrund, z. B. nur eine geduldete Aufenthaltsgenehmigung und die Angst abgeschoben zu werden.
Das sind die wesentlichen Gründe hier im Wedding: Ganz viel Wille, aber leider auch ganz viel Hilflosigkeit bei den Familien. Und genau da wollen wir mit unserem Schulprogramm ansetzen.”
Was bietet Ihr Schulprogramm im Vergleich zu anderen Schulen und worin liegt der Unterschied begründet?
Stefan Döring: „Wir haben mit dem Aufbau der Schule die Chance, von Anfang an eine Schulkultur zu entwickeln. Bei einer älteren Schule eine solche Schulkultur nachträglich einzuführen, ist sehr schwierig.
Wir bieten den Kindern einen gebundenen Ganztag von 8 bis 16 Uhr ‒ eine umfassende Betreuung also. Darüber hinaus ist der Personalschlüssel wichtig. Das bedeutet, wir arbeiten nicht mit mehr Lehrern als eine staatliche Schule, sondern wir holen uns Zusatzpersonal ins Boot, wie z. B. die Teach First Deutschland Fellows. Diese entlasten die Lehrer z. B. in administrativen Aufgaben, damit sich diese auf die pädagogische Arbeit konzentrieren können. Außerdem bekommt jeder Schüler eine Art persönlichen Vertrauenslehrer, einen Tutor, mit dem er einmal in der Woche 30 Minuten über Zielvereinbarungen, persönliche Probleme usw. sprechen kann. Dieser Tutor ist fest an die Familie des Kindes angedockt. Diese intensive Eltern-und Familienarbeit wird unsere Schule ausmachen, sodass im Endeffekt Elternhaus, Lehrer und Schüler an einem Strang ziehen.
Und natürlich haben wir die Freiheit, den Unterricht an die Bedürfnisse der Kinder anzupassen. Dazu gehört z. B. eine intensive Deutschförderung aber auch das Angebot der Fächer Türkisch, perspektivisch auch Arabisch und die slawischen Sprachen. So können die Kinder auch ihre Stärken im interkulturellen Kontext in der Schule ausleben. Denn wenn die Schüler später Deutsch, Englisch und ihre Muttersprache gut beherrschen, ist das natürlich ein Wettbewerbsvorteil auf dem Arbeitsmarkt.
Sie habe zurzeit schon 19 Anmeldungen, aber Anmeldeschluss ist erst Ende April. Es gibt an ihrer Schule aber nur 26 Plätze. Nach welchen Kriterien wählen Sie die Schülerinnen und Schüler aus?
Stefan Döring: „In den Herbstferien haben wir schon mit 20 Kindern eine Herbstakademie durchgeführt, die als eine Art Probe des Schulkonzepts diente. Von diesen 20 Kindern haben sich neun für unsere Schule entschieden. Da sie das Konzept und uns schon kennen, werden sie natürlich ganz sicher in unserer Schule aufgenommen. Im zweiten Schritt ist und sehr wichtig, dass das Jungen-Mädchen-Verhältnis ausgeglichen ist. Und dann schauen wir natürlich, ob die Bewerberinnen und Bewerber und auch deren Familien zu unserem interkulturellen und toleranten Ansatz stehen und ob sie die Bereitschaft zeigen, eine andere Sprache zu lernen. Außerdem ist uns wichtig, dass die Kinder mehrheitlich aus dem Wedding kommen. Aber trotzdem nehmen wir auch einen Bewerber oder eine Bewerberin, der oder die gut zu unserem Konzept passt, aber aus einem anderen Stadtteil stammt. Darüber hinaus werden wir schwerpunktmäßig auch Kinder nehmen, die eine Sekundarschulempfehlung haben, also hier in Berlin ist das der Real- und Hauptschulabschluss zusammengefasst. Das heißt aber nicht, dass wir keine Schülerinnen und Schüler mit einer Gymnasialempfehlung nehmen. Wir möchten eine heterogene Gruppe und ich denke, dass wir eine gute Mischung hinbekommen werden.”
Das heißt, es ist nicht ausschlaggebend, dass die Kinder einen Migrationshintergrund haben.
Stefan Döring: „Uns geht es darum, dass unsere Schüler sowie Ihre Eltern die Bereitschaft zeigen, sich auf das Schulprofil aber auch auf andere Kulturen einzulassen. Alle Kinder hier im Wedding, egal, welchen Pass oder welche Nationalität sie haben oder welche Sprache sie zu Hause sprechen, wachsen in einem interkulturellen Umfeld auf. Und natürlich begrüßen wir Kinder, die große Lust haben z. B. Türkisch zu lernen, obwohl sie es sonst nicht sprechen. Wir wollen Wedding eins zu eins abbilden und das bedeutet, dass ein Großteil der Kinder einen Migrationshintergrund haben, aber natürlich nicht alle. Genauso bedeutet das, dass viele Kinder aus Transferleistungsempfängerhaushalten kommen, aber eben nicht alle. Wir wollen, dass ethnische und soziale Herkunft keine Rolle mehr spielen.”
Das Ziel der Schule ist es ja, dass die Schülerinnen und Schüler nach der 10. Klasse in eine weiterführende Schule gehen oder eine Ausbildung beginnen. Ist das nicht ein herber Aufschlag nach einer sehr begleiteten und betreuten Schulphase?
Stefan Döring: „Unser Schulprogramm ist so gestaltet, dass wir den Schülern zu Beginn der 7. Klasse sehr klare Strukturen aber auch eine äußere Ordnung bieten. Aber wir setzen auch sehr hohe Erwartungen, indem wir an unsere Schüler glauben und sie motivieren. Die Kinder und Jugendlichen haben oftmals keine Erwartungen an sich selbst. Somit ist es wichtig, behutsam ihr Selbstbewusstsein aufzubauen. Stück für Stück und über die vier Jahre hinweg ist es unser Ziel, den Kindern Freiheit zu geben. Das heißt, aus der äußeren Ordnung, den äußeren Strukturen und der äußeren Erwartungshaltung mit einem festen Unterstützungssystem entwickelt sich ein freier Raum, in dem die Kinder eine innere Ordnung, eine innere Struktur und und den Glauben an sich selbst entwickeln und z. B. das Ziel eines guten Schulabschluss aus eigenem Willen verfolgen. Das ist ein wichtiger Prozess, da er auf das vorbereitet, was die Schüler nach der Schule erwartet: ganz viel Freiheit, die mit eigenen Entscheidung gefüllt werden muss. Unser Anspruch ist es, dass die Kinder nach der Zeit in unserer Schule Akteure geworden sind, die ihr persönliches und ihr berufliches Leben selbstbestimmt gestalten und sich gesellschaftlich engagieren.
Das schaffen wir, indem sich der Tutor über die Jahre immer weiter zurückzieht. Außerdem ist geplant, dass unsere Schülerinnen und Schüler auch nach der Schule noch Mentoren zur Seite stehen, die Impulse setzen. Sie sind Ansprechpartner, wenn es Probleme gibt, aber die Jugendlichen sollen bis dahin gelernt haben, sich selbst ein Unterstützungsnetzwerk aufzubauen.”
Sie haben ein Schulkonzept, passende Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler. Was fehlt Ihnen noch?
Stefan Döring: „Wir haben zurzeit noch kein Mietvertrag für Räumlichkeiten unterschrieben, aber da bin ich sehr zuversichtlich, da wir mehrere Optionen offen haben. Aber das ist tatsächlich noch der größte Knackpunkt. Die Schulträgerschaft wird von der Montessoristiftung Berlin übernommen, aber das Geld für den Schulbetrieb im ersten Jahr ist noch nicht gänzlich abgedeckt. Aus diesem Grund haben wir einen Spendenaufruf gestartet. Wenn wir 500 Menschen finden, die monatlich 5 Euro spenden, haben wir 30.000 Euro im Jahr, die wir für die Einrichtung, für Bücher, Schreibutensilien und die IT-Ausstattung brauchen. Deshalb freuen wir uns über jeden Spender.”
Gibt es ähnliche Schulen in Deutschland oder international, die Ihnen als Vorbilder dienen?
Stefan Döring: „Nein, ein richtiges Vorbild haben wir nicht. Aber wir haben uns viele gute Schulen in Deutschland aber auch auf der ganzen Welt angeschaut und haben viele Erkenntnisse daraus gewonnen. Man muss gar nicht so viel neu erfinden und das machen wir auch nicht. All diese Ansätze sind bekannt. Und es ist auch bekannt, wie gute Schule und Pädagogik aussehen müssen, damit sie funktionieren.”
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Titelbild: Stefan Döring mit Schülerin ©Martin Arning
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