Wer zu wenig weiß, muss zu viel glauben: Deutsche Geschichte nach ’45 ‒ was Schule leisten muss und Eltern sollten
„Der Kampf des Menschen gegen die Macht ist der Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen” (Milan Kundera). Leider hält ein Vergessen immer mehr Einzug in nachfolgende Generationen ‒ das Vergessen um unsere Geschichte. „Historischer Analphabetismus“ ist das Schlagwort und dieser wird nicht erst seit gestern von Historikern und Politologen angeprangert. Um das historische Wissen der Deutschen, vor allem der jungen Bevölkerung, steht es nicht gut. Erschwerend muss dieser Feststellung das Unverständis darüber beigefügt werden, dass dies nicht nur längst vergangene Epochen betrifft, sondern auch einen Abschnitt unserer Geschichte, den die heutige Eltern-und Großelterngeneration erlebt hat und der uns bis heute prägt ‒ die Geschichte der deutschen Teilung. Ist auf die Schulbildung Verlass? In Anbetracht der Wissenslücken offensichtlich nicht. Somit haben wir uns die Frage gestellt, inwieweit es Pflicht der Schule ist, an den Defiziten etwas zu ändern und wie Eltern auf diese Defizite reagieren sollten, also der Frage: Spreche ich mit meinem Kind über die Deutsche Teilung, die DDR? Dazu haben wir Dr. Jens Hüttmann von der Bundesstiftung für Aufarbeitung der SED-Diktatur befragt, der für die schulische Bildungsarbeit zuständig ist.
Über freie Wahlen in der DDR
Der „Forschungsverbund SED-Staat“ der Freien Universität Berlin hat 2012 die Studie „Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen“ veröffentlicht, die mehr als erschreckend sind. Die Fragen der Studie zielten auf die Urteile und Kenntnisse Jugendlicher über den Nationalsozialismus, die DDR sowie die Bundesrepublik Deutschland vor und nach dem Fall der Mauer.
Das Ergebnis: das zeitgeschichtliche Wissen von Jugendlichen ist sehr gering. Die meiste Kenntnis kann über die Zeit des Nationalsozialismus vorgewiesen werden; über die DDR und die Bundesrepublik wissen die Jugendlichen deutlich weniger.
So kennt nur die Hälfte der Befragten das Jahr des Mauerbaus, mehr als 70 Prozent finden es gut, dass in der DDR jeder einen Arbeitsplatz gehabt hat, dass es der Umwelt und den Rentnern dort besser ergangen sei und jeder Dritte glaubt, es habe in der DDR freie Wahlen gegeben. Diese Ergebnisse machen mehr als deutlich, dass nicht nur das Nichtwissen problematisch ist, sondern das mit diesem geringen Input an zeitgeschichtlichem Verstehen unangemessene Urteile einhergehen, denen jeglicher Reflexionsgrad abgesprochen werden muss.
„Die Rede vom historischen Analphabetismus ist eine sehr scharfe Rede, die ein durch verschiedene empirische Untersuchungen belegtes Problem deutlich macht. Viele dieser Untersuchungen haben herausgefunden, dass grundlegendes Faktenwissen für Schülerinnen und Schüler heutzutage weitestgehend unbekannt ist. Die empirischen Studien haben aber auch festgestellt, dass es ein großes Interesse von nach 1990 Geborenen gibt, sich mit der deutsche Zeitgeschichte nach 1945 auseinanderzusetzen. Viele Teilnehmer der Studien meinten, dass sie gerne mehr wissen würden, wenn sie mehr angeboten bekämen”, so Dr. Jens Hüttmann. Und für dieses Angebot ist in erster Linie die Schule verantwortlich.
Sollen und können, ein unterschiedliches Paar Schuhe
Man lernt das Leben Napoleons oder Karl des Großen auswendig, erfährt aber nicht, wer der Mann war, der in jedem Klassenzimmer an der Wand hing, in dem die Eltern in ihrer Schulzeit saßen, wenn sie denn aus dem Osten kamen. Eltern haben den Anspruch darauf, dass die Schule ihnen das abnimmt, doch ist es mit dem Thema der deutschen Teilung und der DDR an vielen Schulen nicht weit her, auch wenn sich, laut Hüttmann, die Rahmenbedingungen in den letzten zehn Jahren an zwei Stellen gebessert haben. „DDR und Teilungsgeschichte ist mittlerweile in allen Rahmenlehrplänen enthalten. Die Kultus- und Schulministerien haben auch auf die Studien reagiert und viele didaktische Materialien sind entstanden. Die gibt es praktisch zu jedem Thema der deutschen Zeitgeschichte nach 1945, wenn man nur gut genug sucht. Die DDR-Geschichte wird nicht mehr als ein Isolani betrachtet, sondern stärker in die doppelte deutsche Nachkriegsgeschichte eingebettet, d. h. der DDR und Bundesrepublik in ihren Unterschieden und Beziehungen zueinander. Ebenso muss man die DDR Geschichte im Kontext der Geschichte des Kommunismus im 20. Jahrhundert betrachten. Es geht darum, diesen Teil unserer Geschichte in größere Themen zu integrieren, wo es mittlerweile bei den Lehrmaterialien starke Fortschritte gibt”.
Fortschritte in den Ansätzen von Kultus- und Schulministerien gibt es also, ebenso gutes Lehrmaterial und dennoch scheint es an der Umsetzung noch zu scheitern: „Das Problem ist bis heute, dass für den Geschichtsunterricht in Zeiten von PISA und G8 nicht viel Zeit bleibt, d. h. die Stundentafel sieht nicht viel Zeit vor für historische Themen. Deshalb kommt es auch sehr stark auf das individuelle Engagement von Lehrerinnen und Lehrern an. Wenn man Lehrkräfte motivieren kann, dass Thema selbst stärker zu behandeln, dann finden viele auch Wege, diese Themen stärker umzusetzen”, gibt Hüttmann zu bedenken.
Auch ist es bundeslandspezifisch unterschiedlich, wie der Geschichtsunterricht dieses Thema behandelt. Wo Schülerinnen und Schüler aus Luckenwalde schon in der 6. Klasse ins Mauermuseum gehen, hat man in Franken oder andernorts bis zur Oberstufe nichts davon gehört (siehe Zeit/2.Januar „Was kennt ihr von der DDR”, S.8). Dabei gibt es eigentlich keine altersspezifische Grenze, Kinder mit dieser Thematik zu konfrontieren, meint Hüttmann: „Ich habe im letzten Jahr mit einem Projekt zu tun gehabt, das Lehrmaterialien für Grundschüler entwickelt hat. Ein Lernspiel zum 17. Juni, was den Schülern auf interessante und spielerische Weise die Unterschiede zwischen Diktatur und Demokratie vermittelt. Insofern gibt es keine kategorische Grenze und keinen Grund, auch Grundschüler schon damit zu konfrontieren. Es gibt z. B. sehr gute Kinderbücher, wie das von Klaus Kordon „Die Flaschenpost“. Es behandelt eine Kinderfreundschaft im geteilten Berlin. Und es werden die Konsequenzen dieser großen Politik auf die Beziehung der Kinder aufgezeigt und das ist etwas, was auch Grundschüler in jedem Fall schon spannend finden können”.
Eltern können und sollten auch einen Beitrag leisten
Da auf die Schule, wie aufgezeigt, nicht in Gänze Verlass ist, stellt sich nicht minder die Frage, inwieweit Eltern in der „Pflicht“ sind, über das Deutschland zu erzählen, wie es in ihrer Kindheit noch war. Auf Fragen von Kinderseite kann man womöglich vergeblich warten, wenn nicht gerade die Familienbiographie mit einschneidenden Erlebnissen aus dieser Zeit aufwartet. Doch macht man als Elternteil einmal den Anfang, ist es leichter darüber zu reden. Oft muss man Kinder überhaupt erstmal darauf aufmerksam machen und wenn dies die Schule nicht leistet, sollte eben das Elternhaus als Aufklärungsinstanz fungieren: „Was neben der Schule ebenso wichtig für das Geschichtsbewußtsein junger Leute ist, ist das, was am Abendbrottisch erzählt wird. Eltern sind durchaus Zeitzeugen und können aus ihrem eigenen Erfahrungsschatz berichten. Prinzipiell ist es gut, wenn überhaupt darüber geredet wird, da Eltern eine persönliche und differenzierte Sicht haben und somit im Idealfall den eher faktischen Geschichtsunterricht ergänzen können. Perfekt wäre es natürlich dann, wenn Eltern auch darauf hinweisen, dass es andere Meinungen und Erfahrungen über diese Zeit gibt”, weiß Hüttmann.
Die Frage nach dem Wie, bzw. jene danach, welches Bild man pauschal vermitteln darf, hat doch jeder diese Zeit anders erlebt, ist dabei gar nicht so wichtig, denn „(…) wenn die Eltern zufriedene DDR-Bürger waren und ein gutes Bild haben, dann kann das dahingehend positiv sein, dass es in der Schule Auswirkungen haben kann, wo im bestmöglichsten Fall die Schülerinnen und Schüler merken, dass es einen Widerspruch gibt, zwischen dem was zu Hause und dem was in der Schule erzählt wird. Und Widersprüche sind aus Sicht der historisch-politischen Bildung gut und wichtig. Wenn es Widersprüche gibt, werden Fragen gestellt, dass habe ich selbst schon so erlebt. Die historische Bildung hängt wesentlich von Kontroversitätsprinzip ab, weil man sich dann selbst ein Urteil bilden kann”, gibt Hüttmann zu bedenken.
Hier wird einmal mehr deutlich, dass zu einer gelungen Aufklärung und einem angemessenen Demokratieverständnis, sprich einem gesunden und ausgeprägten Geschichtsbewusstsein, auch Input von Familienseite gehört. Zumal kann hier mit einer besonderen Form der Geschichtserzählung operiert werden, die die schulische Bildung oft nicht leisten kann. Private Bilder, Briefe, Unterlagen auf denen man Mama, Papa, Tante, Opa sieht, ihre Namen liest und einen persönlichen Bezug zu der Geschichte erhält, „(…) Geschichtserzählung, die nicht nur mit Worten operiert und besonders auch die Gefühlsebene ansprechen kann. Spannend ist dann natürlich, wenn man diese auch für einen Projekttag benutzen darf. Die ganz privaten Materialien sind eine ganz ganz wichtige Sache”, betont auch Hüttmann.
Natürlich kann man diese Geschichte auch ablaufen, an der ehemalige Grenze, das Brandenburger Tor, das Mauermuseum oder die Gedenkstädte Bernauer Straße anschauen, oder sich im geschlossen Jugendwerkhof Torgau vor Ort mit den Lebensumständen vieler Jugendlicher auseinandersetzen. Im Voraus kann man solche Besichtigungen und Erfahrungen auch mit Filmen vorbereiten, die man gemeinsam schaut und zu reflektieren versucht. Vor allem die DDR- Geschichte wurde in den letzten Jahren in vielen Filmen verarbeitet („Das Leben der Anderen”; „Sonnenallee”; „Wir wollten aufs Meer”; „Barbara”; „This Ain`t California” usw.). Auch Filme können bei der Vermittlung helfen: „Der große Vorzug von Filmen und auch Belletristik ist, dass beide Medien es nicht so genau mit den Fakten nehmen müssen und dennoch wichtig für das Geschichtsbewusstsein sind. Zum Beispiel der Film „Das Leben der anderen“, der einen Stasioffizier zeigt, der vom Saulus zum Paulus wird. Es ist aber nicht durch Forschung belegt, dass es solch einen Stasioffizier in dem Rang überhaupt gab, der solch eine Wandlung vollzogen hätte. Aber der große Vorteil des Films ist, dass er sehr glaubwürdig die Möglichkeit zeigt, dass man sich ändern konnte, wenn man wollte. Und das zeigt, dass man in einer Diktatur nicht nur funktionieren muss wie Marionetten oder Maschinen, sondern dass das auch moralische Menschen sind, deren Entscheidungen unterschiedliche Konsequenzen zur Folge haben können. Dieser Film im Speziellen ist insofern sehr sehr gut, auch für den Geschichtsunterricht”, empfiehlt Hüttmann.
Für den Geschichtsunterricht gibt es aber noch ganz andere interessante Optionen, diesen Teil unsere Geschichte interessant zu vermitteln. So kann man z. B. Zeitzeugen in den Unterricht oder zu Projekttagen einladen. Unter www.zeitzeugenbuero.de sind 280 Zeitzeugen in einer Datenbank erfasst, die schon zur Beschäftigung an sich einladen, so Hüttmann. Oder man lädt sie eben in die Schulen ein, eine außergewöhnliche Dienstleistung, die von Schulen angefragt werden sollte. Hilfreich für Lehrkräfte ist auch der Bildungskatalog und die Palakatausstellungen von der Bundesstiftungg für Aufarbeitung der SED-Diktatur. Für 30 Euro kann jede Schule 30 Plakate beziehen ‒ eine Investition, die jede Bildungseinrichtung tätigen kann.
Geschichtsbewusstsein kann nicht nur die Schule prägen
Kinder sollten ein kritisches Geschichtsbewusstsein entwickeln, gerade für eine Zeit, die noch so nahe liegt und die vor allem einlädt, über Demokratie nachzudenken. Dass es vor knapp 25 Jahren noch keine Selbstverständlichkeit war, frei reisen zu können, nicht daran zu denken, dass mein Nachbar mich bespitzeln könnte und die Tante im Westen in einem anderen Land lebte, dass sich nicht nur darin unterschied, dass es dort Sachen gab, von denen man im anderen Teil nur träumen konnte.
Auch wenn die Untersuchungen Wissenschaftlern zufolge eindeutig aufzeigen, dass der Schulunterricht die entscheidende Wissensquelle ist, um Zeitgeschichte vertieft zu behandeln, ist das Reden über die deutsche Teilung und die DDR auch für Eltern keine Tabuzone. „Das Leben wird zwar nach vorwärts gelebt, aber nur nach rückwärts verstanden” (Søren Kierkegaard) und dafür kann und sollte sich jeder ein stückweit verantwortlich fühlen.
Titelbild: ©Eldad Carin/Shutterstock.com
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