Die Qual der Schulwahl – Emils Mutter erzählt
Kuschelige Montessori-Schule vs. graue Standardschule: Was darf’s sein für das geliebte Kind? Autorin Tanja resümiert.
Lange Zeit waren mir Eltern, deren einziges Gesprächsthema die – künftige – Schule ihres Töchterchens oder Söhnchens ist, ein Gräuel. Hatten diese Eltern denn – egal, wo es auf der Welt gerade knallte – kein anderen Sorgen? Bei jedem Essen und jeder Party fingen sie endlose Diskussionen darüber an, auf welche Schule denn Greta, Emma, Finn oder Ben gehen sollen. Damit machten sie nicht nur sich, sondern auch ihren Nachwuchs verrückt.
Die Schule in der Straße
Unser Sohn war gerade mal vier Jahre alt, da fing ich an, meinen Mann und mich mit der leidigen „Schulfrage“ zu quälen – satte zwei Jahre vor Schuleintritt unseres Kleinen. Dabei gab’s eine Grundschule in unserer Straße, auf die einige Nachbarskinder gehen. Aber entsprach dieser große graue Kasten denn wirklich unseren Vorstellungen? Würde unser kleiner Knopf sich dort wohlfühlen? Und hieß es nicht, die Direktorin sei eine Schreckschraube?
Horrorszenario staatliche Schule
Freunde und Bekannte schickten uns in der „heißen Phase“ der Schulwahl ständig Zeitungsartikel und Internetberichte, die in kreativen Variationen Horrorszenarien über die staatlichen Schulen in Deutschland abbildeten. Man konnte den Eindruck bekommen, in allen Schulen, außer kuscheligen Montessori- und Waldorf-Schulen, würden sich die Kinder täglich prügeln, die Gebäude landesweit verschimmeln und die Lehrer kollektiv verzweifeln. Hatte es nicht mal eine ominöse Statistik gegeben, nach der Lehrer sich besonders häufig das Leben nehmen?
Einige Freunde schwärmten von Montessori- oder Waldorfschulen. Bei manchen klang es so, als hätten sie einen neuen Glauben gefunden, ihre Augen leuchteten verdächtig.
Mein Mann und ich, zunehmend unschlüssig, schauten uns daraufhin eine Reihe von Privatschulen an. Wie wäre es denn mit einer musisch orientierten Schule? Oder einer bilingualen? Wahrscheinlich dann doch eine musische Schule, denn so besonders viel hatte der Englisch-Kurs in der Kita nicht gebracht. Nach drei Wochen kannte Emil die englischen Wörter „One“, „two“ und „three“ sagen. Nach zwei Jahren konnte er bis „twelve“ zählen. Wahnsinn.
Hochtrabende pseudo-soziologische Überlegungen mit Freunden, ob man die „soziale Trennung“ von Akademiker- und Nicht-Akademikerkindern selber vorantreiben sollte, ob es für ein Kind nicht besser sei, auf eine ‚normale‘ städtische Schule mit Professoren- und Busfahrerkindern zu gehen, wurden bei uns immer wieder von höchst profanen Überlegungen abgelöst: „Ich finde die Privatschule gut, weil da der Unterricht erst um 8.30 Uhr anfängt und wir nicht so früh aufstehen müssen.“ So lautete eine Zeit lang das zentrale Argument meines Mannes für eine bestimmte Schule.
Es hilft alles nichts. Am Ende muss eine Entscheidung her.
Bald nahte der große Tag, an dem wir unseren Sohn definitiv für die Schule anmelden mussten. Richtig weiter gekommen waren wir mit unserer Entscheidung nicht. Im Gegenteil: Die schiere Menge an Optionen, der gehörten und gelesenen Meinungen ließ uns ziemlich ratlos zurück.
Da gab uns eine Freundin einen Tipp: „Macht euch mal nicht verrückt! Das Entscheidende ist der Lehrer respektive die Lehrerin. Die Schule mit dem tollsten Konzept kann für euren Sohn total verkehrt sein, wenn er eine blöde Klassenlehrer/in erwischt. Ich würde die nächstliegende Schule nehmen – wenn es da gar nicht klappt, könnt ihr immer noch wechseln.“
Fazit: Nicht verrückt machen (lassen)
Nach zwei Jahren Überlegungen standen wir wieder da, wo wir am Anfang gestanden hatten: Vor den Toren der Grundschule bei uns in der Straße. Nun geht unser Sohn dorthin – und, siehe da, die Klassenlehrerin ist herzlich und engagiert, die Direktorin nicht halb so schlimm wie die Gerüchte über sie und auch ohne montessoribasierten Stundenplan oder Waldorf-Töpferwaren fürs Mittagessen scheint die Atmosphäre nett zu sein.
Über die Eltern, die auf Partys lange Überlegungen über die Qual der (Schul-)Wahl anstellen, lache ich aber seither nicht mehr.
© Tanja Dückers, Berlin, im September 2015
Tanja Dückers, *1968 (Berlin), Schriftstellerin und Publizistin, hat 14 Bücher veröffentlicht, darunter auch Kinderbücher, zuletzt „Katzenaugen-grüne Trauben-Blitzer-Glitzer-Geistergrün“ (2015) bei Hanser. Sie schreibt jeden Monat einen gesellschaftspolitischen Essay für die ZEIT Online. Bild: © Elisabeth Gehlen
Titelbild: ©Ganna Vasylenko/shutterstock.com
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