Bulimie: Das Doppelleben im verhassten Körper

In den Medien häufen sich die Beiträge zur Magersucht. Ins mediale Abseits rückt die Essstörung Bulimie. Laut Deutschem Institut für Ernährungsmedizin und Diätetik leiden jedoch weit mehr Menschen in Deutschland unter der Ess-Brech-Sucht als unter Magersucht.

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Das normale Hungergefühl setzt aus – das Sättigungsgefühl auch. Unkontrolliert werden Nahrungsmittel verschlungen. Irgendwann ist der Finger nicht mehr lang genug, um einen Würgereiz zu erzeugen, der die Kalorien aus dem Körper treiben soll. Dann müssen andere Gegenstände aushelfen, denn die Furcht zuzunehmen, ist unerträglich groß. Scham und Ekel treiben in ein Doppelleben. Die Rede ist von einer Ess-Brech-Sucht, auch „Bulimie” oder „Bulimia nervosa” genannt.

Das aus dem Griechischen stammende Wort „Bulimie” heißt übersetzt nur soviel wie „Ochsenhunger”. Damit ist jedoch noch lange nicht erklärt, was sich hinter dieser gefährlichen psychischen Erkrankung verbirgt.

Das perfekte Leben

„Betroffene haben eine sehr hohe Erwartungshaltung an sich selbst, denn sie hegen den Wunsch nach einem perfekten Körper, über den sie maßgeblich ihr Selbstwertgefühl definieren”, erklärt die Kinder- und Jugendlichentherapeutin und Diplom-Psychologin Eva-Maria Schevel. Im Beisein anderer versuchen sie somit ein makelloses Bild abzugeben: „Bulimiker weisen meistens ein sehr gepflegtes Äußeres auf, essen in der Öffentlichkeit sehr kontrolliert, meist fett- und kalorienarm, und sind dazu in den meisten Fällen sportlich”, so Schevel. Auch sind die Betroffenen meistens normal- oder nur leicht unter- bzw. übergewichtig. Die Figur der Erkrankten lässt somit im Gegensatz zur Magersucht nicht auf eine Essstörung schließen und diese wird folglich häufig nicht einmal von Angehörigen in allernächsten Umgebung bemerkt.

Eine unerträgliche Angst

Hinter der perfekten, selbstsicheren Maske verbergen sich jedoch oftmals ein geringes Selbstwertgefühl, Selbstzweifel in allen Bereichen sowie Verlust- und Trennungsängste. „Hier ist vor allem anzuführen, dass es eine hohe Komorbidität von Angststörungen und Depressionen gibt”, erklärt die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. „Das bedeutet, dass eine Bulimieerkrankung häufig gleichzeitig mit Depressionen und Angststörungen – hier seien vor allem soziale Phobien genannt – vorkommt”. Oft fällt es den Betroffenen schwer, ihre Meinung und Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Sie unterdrücken ihre eigenen Bedürfnisse und handeln so, wie sie glauben, dass es ihr Umfeld von ihnen erwartet. „Eine Hypothese ist, dass die Unterdrückung der eigenen Bedürfnisse eine innere Spannung der Betroffenen zur Folge hat, die sie mit Essattacken und dem anschließenden Erbrechen abzubauen suchen”, so Schevel. Hinzu komme die unerträgliche Angst zuzunehmen. An Bulimie erkrankte Menschen haben eine genaue Vorstellung von ihrem perfekten Gewicht. Die Kontrolle des Gewichts setzen sie mit einem Gefühl der Sicherheit und Kontrolle gleich. Ihre Gedanken drehen sich tagein tagaus um ihren Körper, das Essen und um die Angst, zu dick zu werden. „Hier sei auch noch einmal der Suchtcharakter der Störung betont”, so Schevel.

Das unkontrollierte Leben

Aufgestaute Wut, Ängste und Unzufriedenheit oder auch Isolation und ein Gefühl der inneren Leere erzeugen eine emotionale Spannung, die in einer Essattacke und im anschließenden Erbrechen entladen wird. Betroffene schlingen Unmengen an Essen hinunter: haufenweise Süßigkeiten, gläserweise Nutella, packungsweise Toastbrot und Fastfood. Alles, was sonst zu den verbotenen Lebensmitteln gehört – kalorienreich und fettig –, wird hier in kürzester Zeit vertilgt. Die Erkrankten haben das Gefühl, mit dem Essen nicht mehr aufhören zu können. Sie verlieren die Kontrolle über die Menge der Nahrungsmittel, aber auch über sich selbst.

Paradox ist jedoch, dass eine „Fressattacke” vorher penibel geplant ist. „Das ist nötig, damit keiner diese Attacken und das anschließende Erbrechen mitbekommt”, erklärt die Diplom-Psychologin. Auch wählen die Betroffenen die Nahrungsmittel nach Konsistenz aus oder legen eine Reihenfolge der Nahrungsaufnahme fest, um das anschließende Erbrechen zu erleichtern.

Ekel und Scham

Nach dem Kontrollverlust erhalten Ekel, Scham und Schuldgefühle Einzug und übernehmen die Oberhand. Das anschließende selbst herbeigeführte Erbrechen, übertrieben sportliche Aktivitäten oder Abführmittel sollen die Kalorien aus dem Körper treiben. Häufig folgt eine zwanghafte Säuberungs- und Waschaktion, damit die Angehörigen keine Spuren finden und um den Ekel abzuwaschen: Die Essattacke wird ungeschehen gemacht. Dieser Ekel und die Scham lassen die Betroffenen penibel darauf achten, dass keiner von den Anfällen erfährt. Auch der ohnehin angeschlagene Selbstwert wird durch diese Gefühle noch weiter reduziert, was zu einem immer größeren Bedürfnis führt, sein Ideal des perfekten Körpers zu erreichen. Je länger der Krankheitsverlauf andauert, desto mehr ziehen sich die Erkrankten aus ihrem sozialen Leben zurück. Diese zunehmende soziale Isolierung kann sich wiederum negativ auf den Krankheitsverlauf auswirken.

Keine allgemeingültige Erklärung

„Bezüglich der Ätiologie, der Ursache, geht man derzeit von folgenden für die ‚Bulimia nervosa‘ spezifischen Risikofaktoren aus: kindliches und elterliches Übergewicht, ein negatives Selbstkonzept, geringe soziale Unterstützung, negative elterliche Kommentare zum Gewicht und elterlicher Alkoholkonsum”, erklärt die Therapeutin. „Aber bei psychischen Erkrankungen kann oft nicht nur eine Ursache ausgemacht werden. Das heißt, es gibt keinen Faktor, der eine psychische Erkrankung in 100% der Fälle auslöst und nicht alle Fälle einer psychischen Erkrankung werden durch denselben Faktor ausgelöst.”

Hilfe!

Genau wie die Magersucht ist Bulimie eine gefährliche psychische Erkrankung, deren Folgen nicht unbedenklich sind: Durch das häufige Erbrechen kann es zur Schwellung der Speicheldrüse, zu Herz-Rhythmus-Störungen sowie Herz-Kreislauf-Störungen kommen. Die Magensäure verletzt die Speiseröhre und die Zähne. Darüber hinaus kommt es zu Mangelerscheinungen wie Schlaflosigkeit, Haarausfall, Konzentrationsproblemen und Infektanfälligkeit. Außerdem führt das schwankende Gewicht dazu, dass die Regelblutung ausbleibt.
„Die Erkrankten haben darüber hinaus meist eine schwache Impulskontrolle, das bedeutet, dass sie einen Impuls nicht bzw. nur schwer kontrollieren können und ihm einfach nachgehen, z. B. in diesem Fall dem Essen und dem Erbrechen”, so die Psychologin. Eine schwache Impulskontrolle erhöhe darüber hinaus die Gefahr der Anfälligkeit für andere Süchte, wie z. B. Drogensucht, Alkoholismus oder auch selbstverletzendes Verhalten.
Es ist somit wichtig, dass Betroffenen so schnell und gründlich wie möglich geholfen wird.

Angehörigen rät die Psychologin bei einem Verdacht, einen ruhigen Moment abzuwarten und den Betroffenen darauf anzusprechen. „Es ist möglich, dass der Betroffene Erklärungen findet oder das Verhalten leugnet. Hier ist es wichtig‚ am Ball zu bleiben und sich Hilfe zu holen.” Es gibt viele Möglichkeiten, z. B. das Beratungstelefon der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA). Darüber hinaus gibt es auf Essstörungen spezialisierte Einrichtungen und es können natürlich auch immer ortsansässige Psychotherapeuten und -therapeutinnen helfen.

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Titelbild: © Evgeny Atamanenko/Shutterstock.com

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