Magersucht: Krankhafter Ehrgeiz
„Bei der Magersucht ist der Wunsch des Dünnseins nur ein Symbol, das für etwas ganz anderes steht”, erklärt uns Diplom-Psychologin Eva-Maria Schevel.
„Ohne Appetit sein” oder „nervöse Appetitlosigkeit” ist die Übersetzung des aus dem Griechischen stammenden Wortes Anorexia nervosa ‒ der Fachbegriff für Magersucht. Doch die Übersetzung führt in die Irre. Betroffene sind keineswegs „ohne Appetit”, sondern unterdrücken diesen und ihr Hungergefühl mit dem Ziel der starken Gewichtsreduzierung. Junge Mädchen sind von Magersucht deutlich häufiger betroffen als Jungen. „Es ist jedoch wahrscheinlich, dass bei Männern die Dunkelziffer diese Krankheit betreffend höher ist. Essstörungen bei Männern sind noch weit mehr tabuisiert”, so die Psychotherapeutin Eva-Maria Schevel. Jedoch sei nicht jeder, der eine Diät macht, gefährdet an Magersucht zu erkranken, denn „hinter der Magersucht steckt viel mehr, als der Wunsch dünn zu sein.”
Wenn der eigene Körper zum Feind wird
Unser Körper ist bedürftig. Er braucht Nahrung, Flüssigkeit, Schlaf und Ruhe, um gesund zu bleiben. Während der Magersucht wird der Körper zum größten Feind. Er wird als gierig und eklig verachtet. Betroffene versuchen zwanghaft die natürlichen Bedürfnisse unter Kontrolle zu bringen. Die absolute Disziplin und Herrschaft über den eigenen Körper zu haben, gibt ihnen das Gefühl der Unabhängig- und Eigenständigkeit: Der Glaube daran, dass, wenn sie erst einmal dünn sind, sich alle anderen Probleme in ihrem Leben lösen, lässt sie das Hungern ununterbrochen fortsetzen. „Ein Symptom der Magersucht ist die sogenannte Körperschemastörung”, so die Psychologin Eva-Maria Schevel. „Das bedeutet, Magersüchtige sehen sich immer dick, egal wie dünn sie in Wirklichkeit sind. Sie werden also nie mit ihrem Körper zufrieden sein.”
Werden anfangs nur Süßigkeiten und fettige Nahrungsmittel – also alles Kalorienreiche – vom Speiseplan gestrichen, wird die Auswahl an Nahrungsmitteln für die Betroffenen mit der Zeit immer geringer. „Anfangs bekommen Betroffene darüber hinaus Bestätigung und Anerkennung für das verlorene Gewicht und das Durchhalten der Diät durch das Umfeld. Die positiven Rückmeldungen bestärken sie weiter abzunehmen”, berichtet die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin.
„Das Gefühl voll mit Essen zu sein, kommt bei Magersüchtigen immer schneller, da sie schnell immer weniger essen. Dieses Völlegefühl setzen sie mit dem Gefühl, dick zu sein, zuzunehmen, versagt zu haben, schwach zu sein, gleich.” Bald fallen ganze Mahlzeiten weg. Einige Erkrankte hören sogar auf, zu trinken. Größer als die Angst vor körperlichem Schaden ist die Angst zuzunehmen.
Wenn „Ana” zur einzigen Freundin wird
So bestimmt das Essen oder Nicht-Essen die Gedanken, das Handeln und irgendwann das ganze Leben der Betroffenen. Bald dient alles dem Kalorienabbau: Vieles wird im Stehen verrichtet, der Körper wird extremer Kälte ausgesetzt, es werden bewusst sehr schwere Taschen getragen, Abführmittel oder Appetitzügler genommen, in einigen Fällen Essen erbrochen und übertrieben viel Sport gemacht. Die Bedürfnisse des Körpers werden immer mehr unterdrückt. Dem Körper wird neben der Nahrung auch das Ausruhen verweigert.
„Viele Betroffene ziehen sich zurück, zeigen kein Interesse mehr an früheren Hobbys und Gleichaltrigen, da die Krankheit immer mehr Raum einnimmt und eine immer höhere Priorität im Leben.” So bleibt häufig nur diese einzige Freundin übrig, „Ana”, wie die gefährliche und lebensbedrohliche Krankheit oft auf Blogs Betroffener liebevoll genannt wird. Mit ihr gemeinsam wird er bekämpft – der eigene Körper.
Wenn Kontrolle und Perfektion alles bedeuten
„Es gibt Charakterzüge, die überdurchschnittlich häufig bei Erkrankten beobachtet werden. Dazu zählen Perfektionismus, Introvertiertheit, eine hohe Leistungsorientierung und ein niedriges Selbstwertgefühl”, berichtet Schevel. Das niedrige Selbstwertgefühl erlaube es nicht, Fehler zu machen. So wird ein perfektes Ideal angestrebt, das immer höher gesetzt wird. Der Ehrgeiz und der daraus resultierende Leistungsdruck betrifft oft nicht nur das Aussehen, sondern auch viele andere Bereiche im Leben der Betroffenen.
Alles muss nach Plan laufen, perfekt und unter Kontrolle sein. So wird nur noch nach Regeln gegessen, z. B. ein Stück Apfel muss 20 Mal gekaut werden. Auch muss die Umgebung immer aufgeräumt und sauber sein. Die Körperpflege wird immer wichtiger und nimmt nach und nach zwanghafte Züge an. Haben sie in der Schule oft gute bis sehr gute Leistungen erbracht, fällt es ihnen jedoch im Krankheitsverlauf immer schwerer, diese aufrecht zu erhalten.
Der Ehrgeiz und das zwanghafte Perfektsein fordert Opfer: Betroffene überschreiten schnell ihre körperlichen und seelischen Grenzen. So gehen mit der Anorexie Angststörungen (bei 80% der Betroffenen, vor allem soziale Phobien), Zwangsstörungen (bei 70% der Betroffenen) oder Depressionen (bei 60% der Betroffenen) einher.
Wenn das Warum nicht einfach beantwortet werden kann
Die Frage nach dem Warum kann nicht verallgemeinernd beantwortet werden. „Momentan geht man in der psychologischen Forschung von einem multifaktoriellen Ursachenmodell aus. Das bedeutet, dass ganz unterschiedliche Faktoren zusammenkommen und zur Ausprägung dieser Störung beitragen”, so die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Neben Persönlichkeits-, Temperaments- und genetischen Ursachen geht man davon aus, dass auch familiäre Faktoren eine Rolle spielen.
Besonders häufig tritt die Krankheit in der Pubertät auf, also im Alter von 14 bis 16 Jahren. Hier beginnt der Ablösungsprozess von den Eltern, langsam werden von den Jugendlichen Autonomie und Selbstbehauptung gefordert. „Besonders Jugendliche, die sehr harmoniebedürftig sind und dazu noch ein niedriges Selbstwertgefühl aufweisen, reagieren auf diese Entwicklungsaufgabe mit noch mehr Anpassungsbereitschaft und versuchen, die gesellschaftlichen Normen im Sinne des Schlankheitsideals optimal zu erfüllen”, so die Psychologin.
In einer Diät und mit der Leistungsorientierung erfahren sie eine Art Selbstwirksamkeit, sie können etwas aus ihrer eigenen Kraft heraus bewirken, das sie in ihrem alltäglichen Leben wenig erfahren. Sie können aus eigener Kraft Gewicht verlieren und durch Fleiß und Ehrgeiz enorme Leistung z. B. in der Schule erbringen. „Zusätzlich kann das Hungern auch den Eltern gegenüber eine machtvolle Art und Weise sein, in den Konflikt zu gehen, welchen sie in anderen Bereichen scheuen und so ein Schauplatz für Unausgesprochenes werden”, erklärt die Diplom-Psychologin.
Wenn Körper und Seele nach Hilfe schreien
An den vielen sehr gefährlichen „Pro Ana”-Blogs, die trotz des Verbots im Internet wie Pilze aus dem Boden schießen, ist es zu erkennen: Menschen, die an Anorexia nervosa leiden, haben vor einer Therapie meist keinerlei Krankheitseinsicht. Dabei sollten schnell ortsansässige Psychotherapeuten, Psychiater oder Psychiaterinnen oder eine psychiatrische Ambulanz einer Klinik aufgesucht werden. Für erste Beratungsgespräche können auch eine Beratungsstelle oder Online-Chats, Online-Sprechstunden und Gruppenchats besucht werden.
Literaturtipps zum Thema von Diplom-Psychologin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Eva-Maria Schevel:
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Titelbild: ©tommaso lizzul/Shutterstock.com.
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