„Wie lange noch?“ – warum Kinder ein anderes Zeitgefühl haben
„Wann sind wir endlich da?“, schallt es von der Autorückbank. Zeitangaben wie „bald“ und „in einer Stunde“ haben für Kinder keine Bedeutung. Ab wann Kinder ein Zeitgefühl entwickeln und was Eltern davon lernen können, hat uns Zeitforscher Dr. Marc Wittmann erklärt.
Kinder leben in der Gegenwart
Kinder sind gegenwartsorientiert. „Sie leben im Hier und Jetzt und denken weder an die Zukunft noch an die Vergangenheit‟, erklärt uns Psychologe und Humanbiologe Dr. Marc Wittmann im Gespräch. Das ist biologisch bedingt, denn das gesamte Gehirn ist mit dem Lernen beschäftigt. Kinder beobachten ihre Umgebung und saugen alles wie ein Schwamm auf. Da bleibt kein Platz für zeitliche Dimensionen. Das Leben spielt sich in der Gegenwart ab. Babys und Kleinkinder verbinden die vergehende Zeit deswegen immer mit Handlungen. Es gibt Spiel-, Essens- und Schlafphasen, die den Tag unterteilen. Kinder zählen deswegen die Tage gerne mit „Noch zweimal schlafen und dann kommt Oma‟.
Zwischen drei und sechs Jahren beginnen Kinder zu erahnen, dass es so etwas wie Zeit gibt. Sie messen diese allerdings an dem, was sie sehen. Ein großer Hund ist demnach älter als ein kleiner und bei zwei Spielzeugautos, die beide in der gleichen Zeit unterschiedliche Strecken zurücklegen, ist das Auto, das weiter gefahren ist, auch länger unterwegs gewesen.
Zeitgefühl basiert auf Erfahrungsschatz
Erst wenn Kinder die Uhr lernen, beginnen sie ein Gefühl für Zeit zu entwickeln. Doch selbst wenn sie die Uhr lesen können, heißt das noch nicht, dass sie das Konzept „Zeit” verstehen. Das kommt erst mit der Erfahrung. Denn Zeit und Zeitdauer wurden von der Gesellschaft geschaffen und von der Kultur geprägt, sie sind nichts Natürliches. Bevor es die Uhr gab, richteten sich die Menschen nach dem Sonnenaufgang und -untergang. Minuten und Stunden hatten keine Bedeutung. Erst mit der Uhr wurde die Zeiteinheit gemessen und der Zeit einen Wert gegeben. Also müssen Kinder erst lernen, wie sich eine bestimmte Zeit anfühlt, bevor sie ein Verständnis für die Dauer einer Zeit bekommen.
Kann man Zeitgefühl trainieren?
Zeitgefühl lässt sich nicht trainieren, meint Wittmann. Die Uhr kann man lernen, das Zeitgefühl dagegen sei sehr subjektiv. Die Einschätzung von einer Zeitdauer komme mit der Lebenserfahrung von ganz alleine. Irgendwann wissen Grundschulkinder, wie lange eine Schulstunde dauert. Ob die 45 Minuten gefühlt dann schnell oder langsam vergehen, empfindet jedes Kind anders ‒ je nach Interesse am Fach, der persönlichen Tagesform und anderen Faktoren.
Forscher finden es auch fraglich, ob man seinem Kind unbedingt diese magische Zeitlosigkeit nehmen muss, wenn Kinder noch nicht an die Zukunft denken, wenn sie noch nicht vom Kindergarten zum Musikunterricht und anschließend in die Turnstunde hetzen. Pünktlichkeit sollte nicht überwertet werden, schreibt die Erziehungswissenschaftlerin Dr. Simone Wissing in ihrer Studie „Das Zeitbewusstsein des Kindes‟. Denn dieser Zeitdruck führt zu „Pedantrie, mechanisch-fremdgesteuerter Lebensführung und innerer Unfreiheit”.
Dennoch kann man seinem Kleinkind die Dauer einer bestimmten Zeit verständlich machen. Wenn es auf der Autofahrt fragt, wie lange es noch dauere, „holt man sein Kind am besten in die Jetzt-Zeit und schafft Vergleiche”, rät der Psychologe Wittmann. Die Autofahrt dauert, z. B., noch zweimal so lang wie die Lieblingssendung oder man macht eine CD an und sagt: „Danach sind wir da”.
Zeitparadox auch für Erwachsene: Wie lang ist eine Stunde?
Wie lang oder kurz sich Zeit anfühlt, hängt von inneren und äußeren Impulsen ab. Wenn wir nichts tun, z. B. im Zug sitzen, vergeht die Zeit langsam, wir hören unser inneres Ticken laut und deutlich, schauen alle fünf Minuten auf die Uhr. Doch im Rückblick kommt uns diese eine Stunde des Zugfahrens kurz vor. Denn es ist nichts passiert, das in unserem Gehirn Eindrücke oder Spuren hinterlassen konnte. Bei einem Spieleabend dagegen sind die äußeren Impulse stark. Wir entdecken Neues, lernen, lachen, quatschen und hören nicht auf unsere innere Uhr. Im Rückblick ist in dieser einen Stunde am Spieleabend viel passiert, sodass uns unser Gehirn auf einen langen Zeitraum rückschließen lässt.
Was können Erwachsene vom Zeitgefühl der Kinder lernen?
Für Kinder ist das Leben wie ein Dauer-Spieleabend. Es prasseln ständig neue Impulse auf sie ein, sie erleben und lernen täglich etwas Neues. Kein Tag ist wie der andere. Deswegen vergeht die Zeit für sie schnell, im Rückblick aber dauerte ihre Kindheit eine gefühlte Ewigkeit. Bei Erwachsenen ist meist das Gegenteil der Fall. Im Alltag schleicht sich Routine ein, es passiert wenig Neues oder Aufregendes, deswegen hat man im Rückblick das Gefühl, dass die Jahre und Jahrzehnte nur so dahinfliegen. Doch je emotionaler gefärbt und abwechslungsreicher ein Leben ist, desto länger scheint es subjektiv betrachtet zu dauern. Also sollte man öfter mal die Routine brechen, ein neues Hobby anfangen oder ein Instrument lernen. Außerdem sind Erwachsene sehr zukunftsorientiert. Der Alltag ist durchgetaktet, wir rennen von einem Termin zum nächsten, sind im Kopf immer ein Schritt voraus. Selbst unsere Freizeit ist durchgeplant. „Wir haben verlernt, in die Zeit zu leben”, meint Wittmann. Deswegen sollte man öfter wieder wie ein Kind bewusst im Hier und Jetzt sein.
Titelbild: © Yuliya Evstratenko/Shutterstock
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Ein sehr guter Artikel für Menschen, die sich über Zeit noch niemals Gedanken machten, weil ihnen eben diese vermeintlich fehlt. Wie heißt es so passend: „Wer früher stirbt, ist länger tot.“ Wer von Termin zu Termin hetzt, denkt nicht mehr voraus, er/sie funktioniert nur noch. Das Kleinhirn ist da zu erstaunlichen Leistungen fähig und aus meiner Erfahrung ist das ein kleiner Hirntod, da nur noch Programme ablaufen. Erst in dem Moment, in dem der Körper, also auch das Gehirn, dem eigenen Rhythmus folgt, denkt es voraus. Ein Tier oder Mensch auf der Flucht ist zu höchstleistungen Fähig, doch unterscheidet sich der Mensch in einer solchen Situation nicht vom Tier. Wer von Terminen getrieben ist, ist quasi auf der Flucht und verliert ebenfalls jegliches Zeitgefühl. Zeit ist relativ zur Situation angenehm oder unangenehm, doch kann Zeit nur dann hilfreich sein, wenn man sie fühlbar für den eigenen Körper nutzt. Viele Menschen füllen Zeitlöcher mit Freizeitaktivismus, weil sie an manche Themen nicht heran wollen. Kinder tun das nicht, wenn sie ihrer Intuition folgen.
Mein Lateinlehrer erzählte einmal einen Witz auf Hannöversch. Ein Mann geht auf den Markt und fragt eine Fischverkäuferin, ob sie Aale habe. Sie antwortet:“ Ne, ick hef kaane Aale, ick hef Zacht“. Beste Grüße aus Hannover