„Fuck you and die“: Staudamm ‒ ein Film über die Folgen eines Amoklaufs

„Ich sag mal, wie es ist: Ich bin das Gesetz. Was ich sage, wird passieren. Wenn ich will, dass die Welt brennt, dann brennt sie auch.” Die Welt in einer kleinen bayrischen Provinz hat bereits gebrannt. Die hier zitierte Aussage entstammt einem fiktiven Tagebucheintrag, zusammengesetzt aus Originaltexten von Amokläufern und erdachten Ergänzungen. Der Film „Staudamm” von Thomas Sieben thematisiert die unangenehme Wahrheit eines Amoklaufes aus einer für jenes Thema ungewöhnlichen Perspektive heraus, denn weder der Täter noch der Tathergang werden aufgezeigt. Es geht um die zunächst nüchterne Sicht von außen, die mit der Last einer Betroffenen beinahe romantisch zu verschmelzen scheint. Unkonventionell und leise legt der Film die seelischen Verletzungen nach einem Schulamoklauf offen, ohne den Nerv betroffener Fassungslosigkeit überzustrapazieren.

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Was übrig bleibt

Roman, gespielt von Friedrich Mücke, ist Mitte zwanzig und scheint seinen Platz im Leben noch nicht recht gefunden zu haben. Seine Beziehung beendet er beiläufig und dem scheinbar sonst regen Partyleben muss er entsagen, da er nebenbei für einen gestressten Staatsanwalt arbeitet (Dominic Raacke). So begegnet uns Roman zunächst, neben kleinen Joggingausflügen und Dienstbotenkontakt, der ihm neuen Nachschub an Gerichtsakten zukommen lässt, allein, überarbeitetet und abgeschottet in seiner Wohnung. Bis zu jenem Tag, als Roman eine neue Kiste Akten erhält, die er als Tonaufnahme einzulesen und zu digitalisieren hat: Akten eines Amoklaufes. Vor einem Jahr erschoss ein Junge, Peter Wagner, in seinem Gymnasium Mitschüler, Lehrer und schließlich sich selbst. Minutiös rekonstruieren die Akten die Tat, gestützt von Zeitzeugenaussagen und Gutachten und Roman wird erstmals aus seiner stupiden Tonaufnahmenlethargie gerissen, nicht zuletzt auch, weil noch einige wichtige Papiere fehlen und er zu der Polizeidienststelle am Ort des Geschehens fahren muss, um diese zu besorgen. Dort wird er nicht nur mit der Botschaft konfrontiert, dass dies einige Tage dauern kann, sondern auch mit den aufgestauten Aggressionen der Dorfbevölkerung. Doch lernt er die Schülerin Laura (Liv Lisa Fries) kennen, die ihn nicht verstößt ‒ ganz im Gegenteil: Sie hat den Amoklauf miterlebt und lässt das nüchterne Aktenlatein real werden, gewährt ihm Einblicke in das Geschehen, den Tatort und vor allem in ihr Empfinden.

Herausforderung: Die Umsetzung

Dieser Thematik kann man eigentlich nur durch eine ausführliche Vorbereitung und detaillierten Recherche annähernd gerecht werden, was für diesen Film durchaus gewährleistet wurde. So beschäftigten sich der Regisseur Thomas Sieben und der Produzent Christian Lyra unter anderem eingehend mit dem Attentat von Erfurt 2002. Neben der Auseinandersetzung mit Hinterbliebenen erhielten sie Einblick in die Kommissionsberichte über die Tat Robert Steinhäusers. Trockenes Beamtendeutsch ist es auch, das uns zu großen Teilen den Hergang des fiktiven Amoklaufes im Film darstellt. Diese Nüchternheit und jeglicher Verzicht auf Dramatisierung des Ereignisses sind dieser Thematik mehr als angemessen und sprechen für die Feinfühligkeit der Herangehensweise. Konsequent aggregiert die Erzählerstimme Romans die bedrückenden Textpassagen aus den Akten, ein indirekter Zugang, um dem Unvorstellbaren in der Retrospektive ohne visuell aufgeladene Täterprofilnabelschau gerecht zu werden. Optisch wird hingegen kontrastiv mit idyllischen Landschaftstotalen gearbeitet, die sich in ihrer Weite beim täglichen Lauftraining Romans eröffnen. Daneben ist es das Aufeinandertreffen mit der traumatisierten Laura, die sich nach Normalität zu sehnen scheint, sich aber dennoch immer wieder mit dem Geschehen konfrontiert. Dem Film gelingt es gut, die Last einer Überlebendenen, den Schmerz und die Gedankenverlorenheit in jenes Erlebnis sensibel darzustellen.

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Das Rollenprofil der Protagonisten schrammt dabei haarscharf an der Glaubwürdigkeit vorbei, nicht hinsichtlich einer Überspitzung, sondern wegen der Reduzierung ihrer Persönlichkeitszüge. Die Figur des Protagonisten Roman bildet den Bezugspunkt in der Auseinandersetzung mit einem Amoklauf. Er verleiht aus seiner Beobachterperspektive der Tat eine Stimme und für ihn selbst kommt der Besuch am Ort des Geschehens einer Eruption aus seiner lethargischen Festgefahrenheit gleich, ohne das seine Geschichte zum Zentrum des Films avanciert. Diffiziler ist die Figur der Laura gezeichnet. Sie selbst hat den Amoklauf überlebt und hat ein Jahr später weiterhin mit den Folgen zu kämpfen. Traumatisiert doch hellwach setzt sie sich bewusst mit dem Geschehnis auseinander, nicht zuletzt, weil sie dem Täter näher stand, als sie sich eingestehen will. Die beiden auf sich selbst zurückgeworfenen heilen sich auf eine ungewöhnliche Weise gegenseitig, ohne das man dem Eindruck verfällt, die Entwicklung unterliege einem didaktischen oder psychologischen Diktum.
Durch die Reduzierung, sowohl in der Anzahl der Schauspieler, als auch in ihrer zurückhaltenden Darstellung, gelingt es, den Fokus des Films nicht auf das Attentat an sich zu lenken, sondern darauf, was es hinterlässt und dass ist eben nicht nur die Gewissheit, über den Tod des Täters.

Überzeugend ‒ leider nicht bis zum Schluss

Da bisher wenige Filme die Folgen eines Schulamoklaufes, sondern vielmehr die Entwicklung, den Tathergang und das Täterprofil behandelt haben, erweist sich der Blick von „Staudamm“ als seine große Stärke. Sensibel, ruhig und durch die distanzierte Erzählweise lässt der Film dem Zuschauer viel Raum für eigene Zugänge. Doch unterliegt man nur bis kurz vor Ende dem Eindruck, der Film würde ohne vorschnelle Erklärungen auskommen, was ihn zusätzlich bereichert hätte. Auch hier können die Filmemacher nicht der Versuchung widerstehen, eine Erklärung für das eigentlich Unbegreifliche zu unternehmen. Diese plötzliche Umkehrung, umgesetzt durch das unvermittelte Vortragen von Tagebuchaufzeichnungen des Amokläufers, bringt Einbußen in puncto der sonst so gelungenen Überzeugungskraft mit sich. Doch ist diese Wendung vielleicht hinsichtlich des pädagogischen Anspruches gewinnbringend, den der Film durchaus mit sich trägt. Das unterschreibt auch der Präsident des Bayrischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes Klaus Wenzel: „Staudamm ist genial und höchst brisant und kann dazu beitragen, Amokläufe zu verhindern. Ich werde mich intensiv dafür einsetzen, dass dieser hervorragende, gesellschaftsrelevante, wertvolle Film Schüler, Lehrer und Eltern erreicht.“ (Quelle: Filmflyer).

Nicht zuletzt ist es das hervorragende Zusammespiel der beiden Protagonisten. Friedrich Mücke und Liv Lisa Fries verleihen diesem Film durch ihre gelungene Adaption einer eindringlichen Bildsprache das Gefühl einer glaubhaften Annäherung an jenes kaum fassbare Geschehen. Dass wir es hier mit keiner leichten Popcornkinokost zu tun haben, liegt auf der Hand. Und so gräbt sich, trotz eher ungeglücktem Ende, eine behutsam aufkeimende Beklemmung fest, die einen so schnell nicht mehr los lässt.

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Titel: Staudamm (D, 2013)
Regie: Thomas Sieben
Darsteller: Friedrich Mücke, Liv Lisa Fries, Dominic Raacke
Kinostart: 30. Januar 2014
FSK: ab 12 Jahre
Länge: 89 Min.

Website zum Film, mit Hintergrundinformationen, Interviews mit den Filmemachern und Hauptdarstellern

Filmtrailer

Stiftung gegen Gewalt an Schulen

Titelbild: ©milkfilm 2012

Filmplakat: ©milkfilm 2012