Jöran Muuß-Merholz: „OER ist kein Allheilmittel“
Kaum eine Person prägt die OER-Szene in Deutschland so wie er. Wir sprachen mit Jöran Muuß-Merholz über Grundlegendes und Aktuelles im Umgang mit freien Bildungsressourcen.
Über Jöran Muuß-Merholz
Jöran Muuß-Merholz ist Diplom-Pädagoge und Inhaber der Agentur J&K – Jöran und Konsorten. Mit einem kleinen Team arbeitet er an den Schnittstellen zwischen Bildungswelt und digitaler Welt. Dazu gehört auch die Transferstelle für OER – open-educational-resources.de, die das Thema freie Lehr-Lern-Materialien bearbeitet.
Zum Einstieg eine Definitionsfrage: Was sind die Kennzeichnen sogenannter OER – kurz für open educational resources?
Jöran Muuß-Merholz: „Das kann alles sein, was wir in Bildungskontexten einsetzen – von einem einzelnen Arbeitsblatt über Videos oder Bücher bis hin zu kompletten Kursen. Es müssen nicht zwingend Materialien sein. Auch Konzepte, Werkzeuge oder Software können OER sein. Die Haupteigenschaft ist die urheberrechtliche Freigabe, dass jede und jeder OER frei verwenden, bearbeiten und weitergeben kann, selbst in der bearbeiteten Form.“
Was sind wichtige Webseiten, Projekte und Personen, mit denen man sich zum Einstieg auseinandersetzen sollte?
Jöran Muuß-Merholz: „Die Webseite zum.de – die Zentrale für Unterrichtsmedien im Internet ist wohl die älteste und ‚graswurzeligste‘ OER-Plattform. Sie wird von einem gemeinnützigen Verein getragen. Es gibt sie schon seit 19 Jahren! Unter o-e-r.de/freie-lehr-lern-ressourcen-im-netz/ findet man eine Auflistung von 15 guten Anlaufstellen für wirklich freie Unterrichtsmaterialien im Netz. Und die Webseite open-educational-resources.de an sich ist meine Arbeit. Ich habe die Transferstelle für OER 2012 mit dem Ziel gegründet, Menschen über das Thema OER zu informieren.“
Was hat dein Interesse an dem Thema geweckt?
Jöran Muuß-Merholz: „Die Geschichte ist eher kurios. Ich saß Ende 2011 als Mitglied eines Thinktanks in einem Workshop. Ein Mitarbeiter eines großes Internetunternehmens berichtete, dass das Thema OER in den USA großen Zuspruch bekäme und dass wir das nach Deutschland bringen müssten. Ich erwiderte, dass das in Deutschland kaum jemanden interessieren würde und dass sich das auch nicht ändern werde. Um das zu belegen, habe ich damals ein ‚Whitepaper zu OER für Schulen in Deutschland‘ geschrieben. Die Folgejahre haben gezeigt, dass es ein Irrtum war. OER ist bildungspolitisch schnell zu einem größeren Thema geworden.“
Welche Einsatzmöglichkeiten gibt es für OER in der Schule?
Jöran Muuß-Merholz: „Prinzipiell lässt sich OER wie alle anderen Materialien einsetzen. Die Eigenschaft der Offenheit erlaubt einige zusätzliche Möglichkeiten. Ein Beispiel: OER lässt sich besonders gut für projektorientiertes Lernen einsetzen. Wenn Schülerinnen und Schüler selbst digitale Medien erstellen, z. B. Blogartikel, Videos oder Podcasts, dann hilft es sehr, wenn sie nicht so stark vom Urheberrecht eingeschränkt werden.“
Wie groß ist deiner Einschätzung nach das Interesse von Pädagoginnen und Pädagogen in Deutschland, OER-Materialien zu nutzen und selbst zu erstellen?
Jöran Muuß-Merholz: „Ich glaube, man muss unterscheiden. Wir Lehrenden sind ja quasi Remixkünstler. Wir stellen ständig neue Materialien zusammen. Häufig werden diese dann mit Anderen geteilt, aber eher im geschützten Kreis, also z. B. mit einigen Kolleginnen und Kollegen via Dropbox, USB-Stick oder auf geschlossenen Plattformen. Der nächste Schritt, also die ganz öffentliche Freigabe unter einer offenen Lizenz, ist aus meiner Sicht eine Hürde, die bisher nur selten genommen wird.“
Wie können Materialien in Teamarbeit entstehen?
Jöran Muuß-Merholz: „Ich sehe einen großen Trend zu Zusammenarbeit und Arbeitsteilung. Gerade in der Schule können wir da zwar auf keine große Tradition aufbauen, aber es tut sich so einiges. Die Ansprüche an differenziertes Material steigen, gleichzeitig gewinnt die Vernetzung über Fächergrenzen hinaus an Bedeutung. Wer da alles alleine machen will, wird nicht weit kommen. Und es wird mit digitalen Werkzeugen und Plattformen wie Google Docs viel einfacher, als es bisher mit Papier und Kopierer war. Es gibt einige Beispiele, wo das schon geschieht, z. B. in der Freiherr-vom-Stein-Schule in Neumünster, der Realschule am Europakanal in Erlangen oder der Oskar-von-Miller Berufsschule in Kassel.“
Wie müssen Unterrichtsmaterialien gestaltet sein, um auch anderen Nutzern und Nutzerinnen weiterzuhelfen?
Jöran Muuß-Merholz: „Wenn es darum geht, dass andere Menschen mein Material weiterentwickeln können, helfen drei Dinge: Zuerst sollten es bearbeitbare Formate sein. PDF-Dateien zu bearbeiten bringt einfach keinen Spaß.
Dann helfen klare Lizenzangaben. Urheberrechtliche Lizenzfragen sind zwar bisweilen nervig, aber es lohnt sich, sich damit zu beschäftigen. Man muss Dinge wie Creative-Commons-Lizenzen nur einmal verstehen, dann können sie einem die Arbeit täglich erleichtern. Wenn jemand selbst Inhalte freigeben will, ermuntere ich ihn oder sie immer zu möglichst großzügigen Lizenzen. Ich selbst gebe meine Materialien meistens unter der Lizenz CC BY frei. Schließlich sollte man auch eine kurze Beschreibung zu den Materialien mitliefern. Es hilft, wenn man zwei oder drei Zeilen zum Material ergänzt, die den Inhalt beschreiben. So kann es auch bei Google leichter gefunden werden.“
Du bist seit Jahren in der OER-Bildungszene aktiv. Wie hat sie sich im Laufe der Jahre entwickelt?
Jöran Muuß-Merholz: „Die Szene ist deutlich gewachsen. Im Vergleich zum Ausland haben wir einen hohen Anteil von ‚Aktivisten‘, die nicht nur ‚selbst machen‘, sondern sich auch aktiv für das Thema OER einsetzen. Außerdem fällt auf, dass die ‚richtig freien‘ Lizenzen bei uns einen hohen Stellenwert haben. Vor einigen Jahren überwogen bei der Veröffentlichung noch viele Einschränkungen. Ich sehe da einen klaren Trend zur Vereinfachung. Das ist toll! Ein Beispiel ist die Plattform www.pixabay.de, die aus Deutschland kommt. Hier werden qualitativ tolle Bilder unter der sogenannten CC0, also CC Zero, veröffentlicht – das heißt, dass man sie ohne jegliche Auflage verwenden kann.“
Was gibt es aktuell für spannende Debatten über OER und Urheberrecht?
Jöran Muuß-Merholz: „Ich finde es sehr interessant, dass OER schnell zu einem großen Querschnittsthema der Bildungspolitik geworden ist. Für Schule und Hochschule wird von der KMK gerade eine Strategie zur Digitalen Bildung entwickelt. Da scheint OER ein zentraler Baustein zu werden. Und auf der Bundesebene werden wir noch Ende 2016 Projekte sehen, die mit Fördermitteln des BMBF das Thema in die Breite tragen.
Gleichzeitig darf man nicht vergessen, dass OER kein Allheilmittel ist. Eine grundsätzliche Vereinfachung und Liberalisierung des Urheberrechts wäre für den Bildungsbereich aus meiner Sicht mindestens genauso wichtig.“
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Titelbild: © BUNDITINAY/shutterstock.com
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