Meine liebe Frau Schildt ‒ eine sanfte Hymne auf die Kindheit
„Was uns bei der Geburt fehlt und was wir als Erwachsene brauchen, das gibt uns die Erziehung”, schreibt der Philosoph Jean-Jacques Rousseau 1762 in seinem Werk Emile oder die Erziehung. Aber wie müssen Kinder erzogen werden, wie muss Kindern Wissen vermittelt werden, damit sie optimal auf das Leben, auf ihre Zukunft vorbereitet sind? Fragen, die nicht nur die Politik seit Jahrhunderten beschäftigt. Wie die perfekte Pädagogik aussehen muss, beantwortet der Dokumentarfilm Meine liebe Frau Schildt – eine Ode an die Grundschule von Nathalie David nicht. Aber er macht sich Gedanken und lässt darüber nachdenken.
Wäre Frau Schildt ein Tier, wäre sie ein „Bär” oder ein „Eichhörnchen”, auf jeden Fall „irgendetwas mit ganz vielen verrückten Haaren”. In den kleinen Interviewausschnitten mit den Kindern wird schnell deutlich: Die Schülerinnen und Schüler der 4c der Grundschule Rothestraße in Hamburg Ottensen lieben ihre Klassenlehrerin. Sie sei nicht so streng und in der Pause lasse sie die Kinder auch mal im Klassenzimmer lesen und sie rede offen über Streits, die sie schnell erkenne. Aber was unterscheidet die kurz vor der Pensionierung stehende Frau Schildt von den vielen anderen Grundschullehrinnen und -lehrern, sodass ihr ein Film gewidmet wurde?
Malerische Erziehung
Das Beamtentum sei ihr immer ein Buch mit sieben Siegeln gewesen, sie wollte immer ein künstlerischer Mensch sein und kein „Beamtenhengst”. Für sie sei das Thema Hausaufgaben ein ungelöstes Problem. Lernen solle nicht unter Druck, sondern freiwillig passieren und Freude bringen. Am meisten lernen die Kinder voneinander, die Lehrkraft könne ihnen nur bei der Strukturierung helfen. Eine Ansicht, mit der sie, wie sie in den Interviewausschnitten andeutet, auch schon auf Kritik gestoßen ist (Reizthema: Kollegium und Eltern).
„Bei der Erziehung wollte ich alles verändern. Alles ´rausschmeißen und dafür eine einzige Idylle schaffen.” Ob sie das durchgängig in den 40 Jahren Schuldienst geschafft hat, wird nicht thematisiert. Wohl aber soll im Film eine pure Idylle aufgezeigt werden: Die Dokumentation begleitet die Klasse auf ihrer letzten gemeinsamen Reise auf einen Bauernhof. Da passt das eingeworfene Zitat von Rousseau ganz gut: Der Schüler „[…] soll arbeiten wie ein Bauer und denken wie ein Philosoph.”
Ein Hoch auf die Kindheit
Keine Frage, die Kinder denken über alles nach und reflektieren in den Interviews ihre Erfahrungen und das Erlebte der ersten vier Schuljahre teilweise sehr erwachsen ‒ dabei wollen sie es gar nicht ablegen, dieses Kleinsein („Erwachsen werden will ich nicht.”). Die Regisseurin Nathalie David schafft es, durch die Nahaufnahmen die natürliche Ehrlichkeit in den Gesichtern der Kinder einzufangen. Es könnte der Eindruck entstehen, es sei nicht eine Ode an die Grundschule, sondern eine Hymne auf die Kindheit ‒ auf eine Kindheit in einer respektvollen und idyllischen Umgebung.
Der Film ist eine Collage aus Bildern von spielenden Kindern, kletternden Kindern, schwimmenden Kindern, Kinder die Tier entdecken und Pflanzen erschmecken, unterlegt mit nicht ganz fehlerfreier jedoch harmonischer Musik von den Kindern selbst gespielt ‒ dazwischen immer wieder Zitate von Rousseau vorgetragen von einem an eine deutsche Eiche lehnenden Teddybären.
Ein Hauch von Kritik
Frau Schildt wird in dem Essayfilm, wie die Regisseurin ihren Film selber betitelt, porträtiert: Eine Frau, die nie aufgehörte am Bildungssystem zu zweifeln und ihren eigenen Weg der Pädagogik gefunden hat. Frau Schildt deutet selber an, sie lehre anders als andere das Lesen durch Schreiben, kläre über die NS-Zeit auf, dafür sei aber die Sexualkunde ein „düsteres Kapitel” für sie. Allerdings werden keine anderen Unterrichtsmethoden aufgezeigt, die als Vergleichsmoment dienen könnten.
So wird einigen, die eine Dokumentation über das deutsche Bildungssystem erwarten, der Blick nach außen, der Perspektivwechsel fehlen: Zwar wird der Schulunterricht zur Zeit des Kaiser Wilhelms oder der DDR angerissen, jedoch nicht weiter vertieft. Wie sieht jedoch die Pädagogik heutezutage an Grundschulen aus? Wie lehren Grundschullehrerinnen und -lehrer an anderen Schulen in anderen Bundländern? Auf diese Fragen gibt der Film keine Antwort.
So bleibt der Film das, was er sein will: eine gelungene Ode ‒ ein reimloses jedoch sehr strukturiertes, sanft feierliches Lied voller Verse, die andeuten und wenig Konfliktaufnahme dulden, aber ein zentrales Motiv beinhalten: die Erweckung der Sehnsucht nach Idylle und dem Kindsein ‒ eine elegische Ode also.
Titelbild: Frau Schildt und ihre Schülerinnen und Schüler ©Nathalie David
Weitere Verwandte Artikel