Ryan Plocher: „In der Gemeinschaftsschule kannst du niemanden ausschließen“
Der Englisch- und Politiklehrer Ryan Plocher unterrichtet an einer Gemeinschaftsschule in Berlin. Er ist Fan dieser Schulform und wünscht sich, dass alle Kinder so unterrichtet würden – gemeinsam aber differenziert.
Steckbrief
Name: Ryan Plocher
Schule: Fritz-Karsen-Schule, Berlin-Neukölln
Fächer: Englisch, Politikwissenschaften, Geschichte, Erdkunde und Ethik
Die Schülerinnen und Schüler von heute … sind genauso vielfältig und heterogen wie alle Generationen vorher. Unsere Gesellschaft ist endlich bereit, dass ihre Heterogenität an Schulen sichtbar wird.
Die Schule von morgen … wird entweder endlich ausreichend finanziert oder sie wird an den ihr gestellten Aufgaben scheitern.
Ich werde nie vergessen, wie … ich in einem Raum ohne Türklinke unterrichten musste.
Herr Plocher, Sie haben in einem Beitrag der Zeit dafür plädiert, Schülerinnen und Schüler gemeinsam zu unterrichten – egal, welchen Abschluss sie voraussichtlich erreichen: Seit wann unterrichten Sie Schülerinnen und Schüler auf Hauptschul-, Realschul-, Gymnasialniveau zusammen?
Ryan Plocher: „Ich unterrichte seit Februar 2014 an der Fritz-Karsen-Schule in Berlin-Neukölln. Dabei handelt es sich um eine Gemeinschaftsschule, die über die Jahre unterschiedliche Namen trug: Reform-Einheitsschule und danach Gesamtschule. Jedoch wurden seit Gründung der Schule 1948 die Schülerinnen und Schüler noch nie nach Leistung getrennt unterrichtet.“
Also war die Gemeinschaftsschule eine bewusste Entscheidung für Sie?
Ryan Plocher: „Ja, auf jeden Fall. Meine erste Lehrerfahrung in Deutschland machte ich an einer Gesamtschule in der Nähe von Mönchengladbach als Fremdsprachenassistent. Dort gab es nur in den Hauptfächern die Trennung nach Niveaus.
Dort bin ich eher zufällig an die Schule gekommen. Aber die Erfahrung an der Gemeinschaftsschule hat mich darin bestätigt, dass es eine Schulform ist, die funktioniert.
Natürlich müssen die Bedingungen dafür stimmen: die Eltern müssen dahinterstehen, die Ressourcen dürfen nicht zu stark gekürzt worden sein, und die Schülerschaft muss ausreichend heterogen sein.“
Worin sehen Sie die Chancen?
Ryan Plocher: „Zuerst würde ich gern die Idee aus dem Weg räumen, dass alle Gemeinschaftsschulen zwangsläufig innovativ sind. Die Schulen dieser Schulform unterscheiden sich voneinander, wie sich ein Gymnasium vom nächsten unterscheidet.
Gemeinschaftsschule meint eigentlich nur, dass man keinen Schüler bzw. keine Schülerin ausschließen kann. Sie können nicht sitzenbleiben oder in eine andere Schulform ‚wegberaten‘ werden. So haben Schülerinnen und Schüler, die benachteiligt sind, bessere Chancen auf einen besseren Abschluss, weil ihre Leistung im Jahr des Abschlusses entscheidend ist, und nicht ihre Leistung nach der vierten Klasse.
Das sorgt dafür, dass die Lehrerinnen und Lehrer anders an ihre Schülerinnen und Schüler herantreten. Jede Lehrkraft hat das Ziel, dass alle den bestmöglichen Schulabschluss schaffen. Die Frage stellt sich dann, wie sich das umsetzen lässt. Welche Methode kann ich dafür am besten anwenden? Welche Erfahrungen haben meine Kolleginnen und Kollegen mit diesem Kind gemacht? Eine Antworten erhält man dann nur, wenn man sich mit den Jugendlichen auseinandersetzt und seine Kolleginnen und Kollegen mit einbezieht.
Es hängt Vieles vom Kollegium ab: Welche Stimmung herrscht vor? Wie ist das Kollegium zusammengesetzt? Welche Erfahrungen haben die Lehrkräfte gemeinsam gemacht?
Mein Kollegium ist z. B. sehr erfahren mit einer gemischten Schülerschaft. Wir setzen außerdem auf Methodenvielfalt. Gemeinsam sorgen wir dafür, dass ein gewisser Materialpool in jedem Jahrgang existiert.“
Gibt es Herausforderungen, die durch das gemeinsame Unterrichten auftreten?
Ryan Plocher: „ In einer Schule mit klarem Leistungsprofil muss man sich nur ein Mal überlegen, auf welchem Kompetenzniveau man unterrichten will. Ich als Gemeinschaftsschullehrer muss auf allen Niveaus unterrichten und dabei stark differenzieren.
Aber die eigentliche Herausforderung liegt nicht im Unterricht. Als Lehrer bzw. Lehrerin muss man die Probleme der Gesellschaft lösen. Ich begegne jeden Tag den Auswirkungen von Armut, desinteressierten Eltern, Scheidung oder Kriegstrauma. Und dafür gibt es keine Ressourcen: keine Zeit, keine Ausbildung, keinen Platz und kein Personal. Das müsste man auf viel mehr Schultern verteilen und das Jugendamt wesentlich besser ausstatten.
Aber – und das ist das Gute im Vergleich zur Hauptschule – ich habe eine durchmischte Klasse, bei der circa ein Drittel sehr interessiert an Bildung ist. Dieses Drittel wird zu Meinungsführern und zieht den Rest mit. Dadurch entsteht eine starke Klassengemeinschaft, in der sich die Kinder auch gegenseitig miterziehen. Diese starken Schülerinnen und Schüler profitieren auch davon: Sie lernen im Team zu arbeiten, zu leiten, und mit Menschen unterschiedlicher Herkunft umzugehen.“
Wie sieht Ihr Unterricht klassischerweise aus? Gibt es z. B. viel Projektarbeit?
Ryan Plocher: „Gelegentlich unterrichten wir in Projekten, aber das birgt Risiken. Wenn der Abgabetermin für ein Projekt einen Monat in der Zukunft liegt, birgt das die Möglichkeit des Verschiebens und fordert die Schülerinnen und Schüler heraus.
Ich kann natürlich nur für meine Lerngruppen sprechen. Aber die Jugendlichen brauchen viel Struktur. Ich schreibe meinen Plan für die Stunde z. B. an die Tafel und hake ab, was geschafft wurde. Dazu kommt eine Vielfalt an Methoden und Sozialformen. Allerdings sollte man nur mit Methoden arbeiten, die die Kinder bereits kennen.
Man muss die Arbeitsphasen zeitlich so einplanen, dass sich alle Schülerinnen und Schüler noch konzentrieren können. Es darf geringfügig herausfordernd sein. Zwanzig Minuten geht z. B. in meiner neunten Klasse. Danach brauchen die Schüler und Schülerinnen etwas anderes: ein Plenum oder eine Partnerarbeit.“
Wie planen Sie Ihren Unterricht?
Ryan Plocher: „Ich plane rückwirkend: Zuerst schaue ich, was in der nächsten Klassenarbeit rankommt. Dann weiß ich, welches Thema bzw. welches Format ich mit meiner Klasse noch behandeln muss. Wenn ich z. B. Höraufgaben in die Englischarbeit einbauen möchte, muss die Klasse das vorher schon mal gemacht haben. Dann überlege ich, wie viel Hilfe die Kinder je nach Lernstand benötigen.
Die Einführung in die jeweilige Thematik bzw. Form gestalte ich für alle einheitlich und relativ kleinschrittig. Die Übungen sind dann entsprechend differenzierter.“
Gibt es digitale Plattformen, um sich im Kollegium auszutauschen?
Ryan Plocher: „Ja und nein. Wir haben immer die gleichen Probleme mit Datenschutz, Zugangsrechten, Lizenzen oder Urheberrechten. Das führt zu Verunsicherungen. In einigen kleinen Gruppen wird untereinander mit Dropbox gearbeitet, aber das geht nicht z. B. für einen gesamten Fachbereich. Auf meinem privaten Rechner muss ich Software von Apple, Linux und Microsoft verwenden, um mich mit so vielen Kolleginnen und Kollegen wie möglich austauschen zu können.
Wir haben an unserer Schule zwei Plattformen ausprobiert. Beide brachten Vor- und Nachteile mit sich. Bisher gibt es keine zentrale Lösung. Heute wird viel von Schule 4.0 gesprochen – Ich bin immer noch bei Schule 1.0. Ich brauche zuallererst funktionierende Fenster, Türen, Tafeln und WLAN.“
Wie arbeiten Sie ansonsten mit Ihren Kolleginnen und Kollegen zusammen?
Ryan Plocher: „Wir arbeiten in Jahrgängen zusammen und treffen uns als Klassenleitungen wöchentlich. Dabei geht es z. B. um die Planung der zentralen Prüfungen. Dann haben wir Fächerkooperationen, bei denen sich Fachlehrkräfte eines Jahrgangs untereinander austauschen. Wir treffen uns oder stimmen uns per E-Mail ab.
Insgesamt haben wir eine gute Zusammenarbeit, da wir uns als Team verstehen. An Schulen mit einer herausfordernden Schülerschaft ist ein gutes Kollegium das A und O.“
Was war Ihr Lieblingsprojekt im Laufe Ihrer Schullaufbahn? Können Sie uns bitte beschreiben, wie Sie dabei vorgegangen sind.
Ryan Plocher: „Ich gebe ein banales Beispiel. Im Fach Englisch versuche ich jedes Schuljahr mindestens ein Buchprojekt umzusetzen. Das heißt, einen Monat lang lesen alle Schülerinnen und Schüler ein englischsprachiges Buch. Es gibt dann in dem Monat einen Lesetag, die Schülerinnen und Schüler müssen eine Rezension schreiben, das Buch vorstellen oder kreativ werden und z. B. einen Comic gestalten.
Glücklicherweise hat meine Schule eine große Bibliothek, aus der ich die Bücher für die Mittelstufe auswähle. Dann teile ich die Werke in fünf Kategorien von sehr leicht bis schwer ein. Meine Schülerinnen und Schüler haben dann die Hauptaufgabe, das Buch zu lesen und die zusätzlichen Aufgaben zu erfüllen. Diese Methode des selbstständigen Lesens kennen sie bereits, und das klappt gut. Die anderen Aufgaben sind eher die Herausforderung, da fehlt dann auch mal bei dem einen oder der anderen die Rezension.
Aber: Alle Schülerinnen und Schüler haben nach vier Wochen ein Buch auf Englisch gelesen. Mit Lernbehinderung oder mit Aussicht auf Abitur.“
Titelbild: ©Christian von Polentz (transitfoto) / GEW BERLIN (bearbeitet von sofatutor.com)
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