Über Schüler, die wollen, aber nicht können
Referendarin Franziska stolpert über die Leistungsunterschiede ihrer Schülerinnen und Schüler. Das Planen und Durchführen des Unterrichts wird dadurch oft zur Tortur.
Meine Schüler und Schülerinnen sind unterschiedlich. Sehr unterschiedlich. Einige von ihnen würden sich wohl ohne größere Probleme am Gymnasium zurechtfinden. Andere tun sich sogar mit ihrem eigenen Schulweg schwer. Das ist nicht sarkastisch gemeint. In der ersten Woche des Schuljahres war mir eine Schülerin tatsächlich öfter im Schulgebäude verloren gegangen.
Seitdem das Land Berlin zugunsten einer heterogenen Lernumgebung das Schulsystem reformiert hat, lernen die Schüler und Schülerinnen mit sehr verschiedenen Voraussetzungen in einem Klassenverband. Um die Unterschiede meiner Schüler und Schülerinnen deutlich zu machen, skizziere ich hier eine Unterrichtseinheit zum Thema Märchen in einer siebten Klasse:
Märchentabu und große Fege
Ich beginne meine Einheit mit einer Runde Märchentabu, um die gängigsten Begrifflichkeiten aufzufrischen. Denn besonders meine schwächeren Schüler und Schülerinnen benötigen zuallererst einen Wortschatz, um sich am Unterrichtsgespräch beteiligen zu können. Im Team setze ich bewusst leistungsstarke und leistungsschwächere Schüler und Schülerinnen zusammen: Greta bemüht sich einige Zeit mit unsagbarer Anstrengung, Pinar auf das Wort „Besen“ zu stoßen. Sie beginnt mit dem Versuch: „Welches Gerät holst du als erstes, wenn du Ordnungsdienst in der Klasse hast?“ Pinars Antwort: „Fege“.
Greta: „Das ist kein Wort für einen Gegenstand, Pinar. Wie heißt dieses große Gerät, mit dem du den Staub auf dem Boden beiseiteschiebst?“ Pinar antwortet erneut: „Fege?“ Sie ist nun etwas verunsichert. Gretas nächster Versuch lautet: „Auf dem Gerät fliegen auch Hexen!“
Pinar schaut Greta mit großen Augen an und haucht: „Große Fege?“ – An diesem Tag sollte Pinar nicht von selbst auf das Wort „Besen“ kommen.
Nun ist Greta ein Mädchen, das sich gut auf leistungsschwächere Schüler und Schülerinnen einlassen kann. Andere sind hier weniger einfühlsam. Sie brüllen quer durch den Raum, für wie geistig beschränkt sie ihren Teampartner bzw. ihre Teampartnerin halten.
Der rote Faden
Das erste Ziel für meine Unterrichtseinheit ist das Nacherzählen eines Märchens. Den Schülern und Schülerinnen, denen das Erfassen von Texten generell schwerfällt, spiele ich leichtere Märchen zu. Zum Nacherzählen der Märchen lasse ich meine Schülerschaft ein Hilfsmittel anfertigen: den roten Faden. Ausführlich erkläre ich, dass an dem roten Wollfaden, den ich jedem Schüler und jeder Schülerin gebe, kleine Zettel befestigt werden sollen, auf denen sie nun Wörter vermerken oder Bilder zeichnen können. Die Zettel helfen dann bei der freien Nacherzählung der Märchen. Diese Anweisung lasse ich die Schüler und Schülerinnen einige Male wiederholen. Sicher ist sicher. Als ich allerdings ein paar Minuten nach Beginn der Arbeitsphase meinen Blick über die Tische schweifen lasse, entdecke ich Pinar. Sie hat sich den Bindfaden um den Hals gelegt und eine Schleife hineingebunden. Wie ein Schmuckmodel schaut sie mich stolz an, zwei Finger auf den Hals gerichtet. Ich muss mir ein Lachen verkneifen. Eigentlich ist es aber traurig, dass sie noch immer nicht weiß, was ihre Aufgabe ist.
„Frau F., wir sind doch noch Kinder!“
Auch Pinars Tischnachbarin Marion schaut unproduktiv und unwissend drein. Ich frage: „Na ihr zwei – habt ihr verstanden, was zu tun ist?“ Marion: „Ich bin mir nicht sicher.“ Ich: „Ihr sollt euer Märchen vor der Klasse nacherzählen. Dazu bastelt ihr euch den roten Faden als Hilfsmittel!“
Marion weitet die Augen und fragt ungläubig nach: „Erzählen?“
Ich: „Ja!“
Marion: „Das Märchen?“
Ich: „Ja!“
Marion: „Allein?“
Ich: „Ja!“
Marion schaut mich wie die bettelnde Katze aus Shrek an und sagt wimmernd: „Aber Frau F., wir sind doch noch Kinder!“
Ich habe Mitleid, aber noch weiter kann ich die Aufgabe nicht herunterbrechen. Andere Schüler und Schülerinnen sind lange mit ihrem Auftrag fertig und langweilen sich. Wieder andere halten die Aufgabe für eine Zeitverschwendung und bemühen sich gar nicht erst. Ihnen fehlt es weniger an Kompetenz als an Motivation. Für mich ist das die ärgerlichere Diagnose.
Hans im Glück 2.0
Zum Abschluss meiner Unterrichtseinheit lasse ich meine Klasse das Märchen Hans im Glück in die moderne Zeit versetzen. Hans lebt in meinem Märchenbeginn, den ich als Impuls gebe, in Berlin und möchte die Welt sehen: Für sein Jahr stellen ihm die Eltern 300 Euro, eine Jahreskarte für die Deutsche Bahn und ein neues Handy zur Verfügung. Die Anforderungen an die Märchen meiner Schüler und Schülerinnen sind gering: Das Märchen soll moderne Züge aufweisen und der für das Märchen typische Tauschhandel soll beibehalten werden. In meinem Kopf formieren sich die tollsten Geschichten:
Hans erfindet eine Tausch-App und wird zum jüngsten Millionär Deutschlands.
Hans schafft es, durch ein eingetauschtes Flugticket für ein Jahr zum Work and Travel nach Australien zu gehen.
Hans schwört dem Materialismus ab und lebt zurückgezogen von ertauschten Lebensmitteln im Wald.
Die Ergebnisse der Schülerinnen und Schüler sind allerdings ernüchternd: Pinar ist zu Beginn übermäßig motiviert und verkündet: „Modern? Das liegt mir – ich mag ja Handys!“ In ihrem zehnzeiligen Märchen gerät Hans allerdings nur in Streit mit seiner Freundin Malin, die ihn von seinem großen Traum, Stuntman zu werden, abbringen möchte. Es ist ein einziger Dialog. Leider setzt sie die Anführungszeichen falsch, sodass die typografische Unordnung ihres Textes mir eine Ahnung über die Zustände in ihrem Kopf gibt.
Ein Schüler nimmt sich vor, Hans im Glück in einen Psychothriller umzuwandeln. Leider verlässt ihn die Lust nach einer Seite und die stimmungsvolle Schreibe, die er wirklich draufhat, nimmt ihr jähes Ende, bevor ein Mord, ein Unfall oder sonst etwas Unheilvolles passieren kann. Hier besiegt der Schweinehund leider das Talent.
Gestresst in der heterogenen Lernumgebung
Ich stehe hinter der inklusiven Schule. Die Schülerinnen und Schüler werden für ihre Unterschiedlichkeit sensibilisiert und zu toleranten Menschen herangezogen. Der Unterricht gestaltet sich seither aber schwieriger: Der gleiche Unterrichtsgegenstand muss an viele unterschiedliche Wissensstände angepasst werden. Zum Ergebnis hat das oft drei- bis fünffach differenzierte Arbeitsblätter oder die die Gesellschaft spaltenden offenen Unterrichtsformen. Ich für meinen Teil habe meine Schüler und Schülerinnen so oft für Gruppenarbeiten, Weltcafés und Gruppenpuzzles zusammengesetzt, dass sie den Raum am liebsten verlassen möchten, wenn ich wieder die Tische zusammenstelle.
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Titelbild: © Maksim Shmeljov/shutterstock.com
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