Unterricht in Notunterkünften: Der Schulalltag in Haiti
Das Erdbeben in Haiti im Januar 2010 hat 4.000 Schulen zerstört. Trotz Zusage internationaler Hilfe wurden nur wenige Schulen wieder aufgebaut. Die meisten Kinder werden in Übergangsunterkünften und unsicheren Klassenzimmern unterrichtet. Wir haben nachgefragt, wie der Schulalltag an der christlichen Mädchenschule Centre Rosalie Javouhey in Port-au-Prince aussieht.
„Guten Morgen Schwestern, guten Morgen Lehrer, guten Morgen Freunde,“ singen die Schülerinnen des Centre Rosalie Javouhey im Chor. Jeden Morgen um acht Uhr beginnt die Schule mit einer Versammlung. Es wird zusammen gebetet, die Nationalhymne gesungen, die haitianische Flagge gehisst und Ankündigungen gehört. Dann kehren die Schülerinnen in ihre „Klassenzimmer“ zurück.
Erdbeben erschüttert Haiti
Der 12. Januar 2010, ein Dienstag, begann wie ein jeder anderer Schultag. Nach der Versammlung hatten die Schülerinnen bis 12 Uhr mittags Unterricht. Das Centre Rosalie Javouhey hatte genügend Platz, um 600 Kinder aus dem Slum Fort National zu unterrichten und Abendklassen für 150 Kinderarbeiter anzubieten. Doch am Abend des 12. Januars lag die Schule in Schutt und Asche. Ein Erdbeben der Stärke 7,0 erschütterte den Karibikstaat, kostete hunderttausenden Menschen das Leben und machte fast 2 Millionen Menschen obdachlos. Weite Teile des Landes wurden zerstört, darunter 4.000 Schulen.
Trotz Zusage internationaler Hilfe in Höhe von 9,3 Milliarden US Dollar ist wenig im Land angekommen. Nur ein paar der zerstörten Schulen wurden wieder aufgebaut. Der Unterricht findet meistens in viel zu kleinen Zelten oder anderen Übergangsunterkünften wie Holzhütten ohne Türen und Fenster statt. Für tausende Schüler und Schülerinnen gibt es keinen Platz an Schulen. Fast ein Drittel der Kinder im schulfähigen Alter gingen bereits vor dem Erdbeben nie zur Schule – eine Katastrophe für eines der ärmsten Länder der Welt.
Das Centre Rosalie Javouhey wurde vom Erdbeben hart getroffen. Die meisten Gebäude wurden zerstört, nur noch sechs der Klassenzimmer sind sicher genug, um sie zu benutzen. Eine andere Schule in der Nachbarschaft wurde komplett demoliert. Auf diesem Gelände darf nicht erneut gebaut werden, deswegen wurden die zwei Schulen zusammengelegt. Jetzt zählt das Centre Rosalie Javouhey 1.250 Schülerinnen.
Der Unterricht geht weiter
Es mangelt an Platz. Zwischen 45 und 47 Kinder sitzen in einem „Klassenzimmer“. „Jeden Tag lernen die Schülerinnen in Bedingungen, die sogar einen Erwachsenen herausfordern würde,“ sagt Schwester Meave Guinan. Dennoch versuchen die Lehrer und Schwestern, den Schulalltag so normal wie möglich zu gestalten. Ab 6 Uhr früh kommen die ersten Kindergartenkinder und Schülerinnen in der Schule an. Um 8 Uhr beginnt der Unterricht mit der Versammlung. Zwischen 10 und 11 Uhr gibt es Mittagessen für alle. Für viele Kinder ist das oft die einzige Mahlzeit am Tag. 80% der Haitianer leben von weniger als 2 US Dollar am Tag. Manche Mädchen sind so unternährt, dass die Lehrer Snacks am morgen verteilen, damit sich die Schülerinnen überhaupt im Unterricht konzentrieren können.
Die Schülerinnen bekommen Essen, Schuluniform, Bücher und andere Schulmaterialen von der Schule gestellt. Dafür müssen sie eine Schulgebühr bezahlen, denn der Staat subventioniert nur etwa jede zehnte Schule. Das heißt, selbst Schulen in den ärmsten Gegenden sind meistens privat. Das Centre Rosalie Javouhey versucht, die Gebühren so niedrig wie möglich zu halten, damit niemand aus finanziellen Gründen nicht zur Schule gehen kann. Wenn das Budget knapp wird, setzen sich die Schwestern, die dem St. Joseph of Cluny Orden angehören, mit Kirchen aus dem Ausland in Verbindung, um nach Spenden zu fragen.
Bau neuer Schule
Nach dem Erdbeben haben die Schwestern ihre internationalen Netzwerke mobilisiert und um Unterstützung gebeten. Denn die Schule muss nicht nur wieder aufgebaut werden, sondern auch genügend Platz für fast doppelt so viele Schülerinnen bieten. Eine Gruppe von Studenten, Architekten und Designern in London haben auf den Hilferuf der Schwestern geantwortet. Zusammen mit den Lehrkräften des Centre Rosalie Javouhey und der Gemeinschaft des Slums Fort National haben sie einen Schulkomplex entwickelt, der naturkatastrophenfest, umweltfreundlich und günstig zu bauen ist. Drei neue Gebäude mit insgesamt 24 Klassenzimmern, einer Bücherei, einem Computerraum, einer Schulkantine, einem Sturmbunker sowie Toiletten und Waschräume sollen entstehen.
Dank unkomplizierter Architektur wird die Schule einfach nachzubauen sein. Natürliche Ressourcen wie Tageslicht und Regenwasser werden optimal verwendet. Der Gedanke dahinter ist, eine nachhaltige Schule zu gestalten, die in ganz Haiti nachgebaut werden kann und niedrige Instandhaltungskosten hat, damit die Schulen ohne Spenden funktionieren können.
Damit der Bau der Schule Hand und Fuß hat, haben sich die Freiwilligen in London zu der Organisation Thinking Development zusammengeschlossen. „Es ist schlimm genug, eines der entsetzlichsten Katastrophen in der Geschichte der Menschheit miterleben zu müssen, Familienmitglieder und dein Zuhause zu verlieren. Kein Kind sollte zusätzlich darunter leiden, keine Schule zu haben,“ erklärt Linda O’Halloran, Leiterin von Thinking Development. „Außerdem bin ich der Meinung, dass es einfach falsch ist, zu denken, dass die Ärmsten mit einer zerstörten Schule zufrieden sein sollen. Das würde in Europa keiner erlauben.“
Titelbild: ©Thinking Development
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