Wir lesen: Die Wolke

In diesem Monat öffnet Lehrerin Franziska einmal mehr die Tür des Klassenzimmers und gibt einige Eindrücke aus dem Deutschunterricht in Klasse 8 wieder.

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Oh, ich liebe die Literatur! Und ich liebe es so sehr, im Unterricht über sie zu sprechen. Unterrichtseinheiten mit Ganzlesestoff sind mir mit Abstand die liebsten. Nicht allein, weil ich mich selbst zu gern in literarische Welten flüchte, sondern auch, weil sie so schön viel über das Leben meiner Schülerinnen und Schüler preisgeben. Viel zu gern lasse ich meine Schülerschaft sich in Protagonisten und Nebenfiguren hineinversetzen, Briefe an sie schreiben und Stellungen beziehen. Ich bin oft erstaunt über ihre Positionen, überrascht von ihrem Vorwissen und überzeugt von ihrer Kreativität. Kurz: Literatur! Ist! Toll!

Atomenergie und Todesstrahl

Zuletzt habe ich mit meiner Kollegin Gudrun Pausewangs Werk Die Wolke aus dem Jahr 1987 im Unterricht gelesen und besprochen. Die Diskussion über die Gefahr und Abschaltung der Atomkraftwerke hält im öffentlichen Diskurs ja noch immer an, weswegen wir beschlossen haben, den preisgekrönten Jugendroman in den Unterricht mit unserer achten Klasse zu bringen.

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Wir beginnen unsere Einheit mit einem kurzen Dokumentarfilm über die Nuklearkatastrophe von Fukushima. Meine Schülerinnen und Schüler waren im Jahr des Unglücks zwischen sieben und acht Jahre alt und bringen doch erstaunlich viel Vorwissen zum Thema Atomenergie mit, was mich beeindruckt. Alexanders Arm bleibt bei jeder Frage gehoben. Er hat sich ausführliche Notizen gemacht und erklärt sachlich, wie bei der Kernspaltung Energie freigesetzt wird und dem Menschen gefährlich werden kann. Er erinnert mich ein bisschen an den jungen Sheldon Cooper, was mir schon wieder ein bisschen Angst macht. Dieser wollte, eigenen Ausführungen in der TV-Serie Big Bang Theory nach, als Jugendlicher seinen eigenen Todesstrahl bauen. So beschließen wir, das Thema nicht komplett in die physikalische Richtung driften zu lassen und beginnen schnell mit der Lektüre.

Wir lesen die ersten Seiten, auf denen der Ausnahmezustand nach einem ABC-Alarm in der Schule beschrieben wird. Erst beim gemeinsamen Lesen mit den Schülerinnen und Schülern fällt mir auf, dass dieses Thema auf die Jugendlichen doch bedrohlich wirken könnte. Was würden sie tun, wenn auf einmal der Alarm bei uns losginge? Welche Sachen würden sie schnell daheim einpacken? Auf welche Familienmitglieder würden sie im Ernstfall besonders viel Rücksicht nehmen? In dieser achten Klasse befindet sich im Moment kein Schüler oder keine Schülerin mit einer Fluchtgeschichte, das wussten wir zum Glück vorher. Andernfalls wäre mir diese Thematik viel zu heikel gewesen.

Dürfen wir das lesen?

Trotzdem nimmt der Inhalt meine Klasse mit. In der Pause vor der nächsten Unterrichtsstunde spricht mich Nathalie an. Sie hat ihrer Mutter zu Hause erzählt, dass wir im Deutschunterricht Die Wolke lesen und soll mir nun ausrichten, dass dieser nicht recht ist, wenn wir diese Lektüre behandeln, weil sie selbst danach offenbar stark traumatisiert war. Nathalie steht nun sehr verängstigt vor mir und fürchtet ein ähnliches Trauma mit schlaflosen Nächten. Ich kann sie etwas beruhigen und auf die langjährige Erfahrung meiner Kollegin verweisen, die dieses Buch schon vielen Schülergenerationen nähergebracht und nach eigenem Wissen niemanden traumatisiert hat.

Wir gehen in die Schülerlesung. Auch so ein Vorteil des Literaturunterrichts: Wir können die Schülerinnen und Schüler mal wieder so richtig klassisch vorlesen lassen. Eine Kernkompetenz, die die Jugendlichen nach der Grundschule oft viel zu schnell wieder verlernen. Ole liest: „Sie verstehe überhaupt nicht, warum sich Mutti um Janna-Berta und Uli mache.“ Die Klasse, wie auch ich, weisen Ole darauf hin, dass er beim Lesen das Wort „Sorgen“ ausgelassen hat. Ole schüttelt den Kopf. „Bei mir ist da ein Fleck und wo ein Fleck ist, kann ich auch kein Wort lesen.“ Ich muss ein bisschen lachen. Er liest weiter: „Sie, Jo, habe schon mit dreizehn Jahren ihre drei jüngeren Geschwister versorgen müssen, als ihre Mutter zur Entbindung des fünften Kindes im Krankenhaus gewesen sei.“ – „Schüüsch, sie übertreibt voll!“, raunzt Zaza dazwischen. Ein allgemeines Gelächter geht daraufhin durch die Klasse, die nun nur noch schwer zurück in eine ruhige Lese-Atmosphäre zu bringen ist. Nina ruft einmal quer durch den Raum: „Zilan, ich schwöre, ich hab grad beim Einatmen meine Haare in den Mund gesaugt. Voll eklig!“ Einige besonnene Schülerinnen und Schüler fordern wieder etwas mehr Aufmerksamkeit von ihrer Klasse, sodass wir mit dem Lesen langsam vorankommen.

„Gudrun Pausewang, du hast mein Leben zerstört!“

Inhaltlich geraten wir noch in einige Diskussionen und Zwickmühlen. Bei besonders tragischen Stellen, die die Klasse zum Teil allein zu Hause lesen soll, gestehen Einige im Nachhinein, dass sie weinen mussten. Die Vorstellung, wie Janna-Berta so viel Unglück zu erleben und allein auf sich gestellt zu sein, liegt, Gott sei Dank, weit außerhalb ihrer eigenen Vorstellungskraft. Trotzdem ist es schön zu sehen, dass auch die Jugendlichen, die sich sonst besonders hart zeigen, empathisch sein können.

Zum Abschluss der Unterrichtseinheit bringe ich der Klasse einen Zeitungsartikel der TAZ mit, der im März dieses Jahres anlässlich Gudrun Pausewangs 90. Geburtstag erschienen ist. Waltraut Schwab und Martin Reichert stellen in ihm sehr gegensätzliche Glückwunschtexte gegenüber. Während Schwab Pausewang als ungemein wichtige Autorin schätzt und ihren Mut zur Aufklärung feiert, schreibt Reichert: „Gudrun Pausewang, du hast mein Leben zerstört!“ und breitet damit ein ähnliches Trauma seiner Jugend aus, vor dem auch Nathalies Mutter gewarnt hatte. Ich lasse die Klasse zu Wort kommen und bin froh, als alle resümieren: „Wir sind klüger geworden, nicht traumatisierter!“

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Titelbild: © s_oleg/Shutterstock.com