33 Lehrkräfte geben Tipps für hybriden Unterricht

Digitale Medien erhielten während der Frühphase der Corona-Pandemie einen riesigen Bedeutungsschub. Aber wie können Lehrkräfte und Schülerschaft jetzt produktiv und nachhaltig mit den gewonnenen Erkenntnissen umgehen? Lehrer Tim Kantereit hat Ideen und Anregungen gesammelt.

So klappt's mit dem Lernen – jetzt im Video anschauen!

Das Problem: Schule verändert sich zu langsam

Overhead
©Patrick Daxenbichler/shutterstock

Dass deutsche Schulen sich erneuern sollen, wird von vielen Institutionen – Schulen, Lehrkräften, der Bildungspolitik – häufig und wiederholt gefordert. Es wird vom Wunsch nach einem „zeitgemäßen Unterricht“ gesprochen, was unterschiedliche Schwerpunkte beschreiben kann: 

  • Die Einbindung digitaler Medien und elektronischer Geräte, 
  • die Verschiebung des pädagogischen Ansatzes hin zum schülerzentrierten Arbeiten, 
  • der häufigere Wechsel von Frontal- und projektbasiertem Unterricht, 
  • die Inklusion aller Schülerinnen und Schüler ins Klassengeschehen, unabhängig von deren körperlichen, sozialen oder geistigen Voraussetzungen. 

Immer wieder bleibt es jedoch bei der Forderung, dem Vorschlag oder dem Konzept, das jemand für den vorgesehenen „Change-Prozess“ erstellt hat. Eine Umsetzung findet nicht statt.

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Von Twitter über eine Infografik zur Buchidee

Ideen-zum-Buch-Hybridunterricht
©Mr.Exen/shutterstock

Als es im März 2020 in Deutschland zum Ausbruch der Corona-Pandemie kommt und auf einmal alle Schulen und Schulämter aktiv handeln müssen, reift bei dem Bremer Lehrer Tim Kantereit eine Idee: Es ist höchste Zeit, hilfreiche Inspiration und Leitwerte für einen digitalen Fern- und Hybridunterricht zu erstellen. Er trägt erst neun Leitwerte zusammen, reduziert sie noch mal auf sechs und veröffentlicht diese Infografik auf Twitter:

mit freundlicher Genehmigung/ © Tim Kantereit

Da dies eine reduzierte Darstellung der Teilstücke guten Unterrichts ist, entschließt er sich außerdem dazu, auf Twitter und Instagram auf die Suche nach weiteren Lehrerinnen und Lehrern zu gehen. Diese dröseln die einzelnen Aspekte eines zeitgemäßen Unterrichts auf und erklären z. B. das formative Assessment oder unterfüttern ihre Beobachtungen aus dem ersten Lockdown mit Handlungsempfehlungen.

Er fand 33 Lehrkräfte aus Deutschland und der Schweiz, die sich im #twitterlehrerzimmer bzw. #instalehrerzimmer austauschen. Sie besprechen in den sozialen Netzwerken ihre neuen Ideen und alte Probleme und teilen ihr Gedanken mit teilweise komplett fremden Kolleginnen und Kollegen. Das Ziel ist dabei immer: Guten Unterricht gestalten. Diese 33 Menschen haben einen oder mehrere Beiträge erstellt und in nur sechs Wochen Arbeitszeit war das Buch fertig: „Hybrid-Unterricht 101 – Ein Leitfaden zum Blended Learning für angehende Lehrer:innen“. Alle Inhalte des Buches sind übrigens als CC BY SA deklariert.

Das Buch zum Hybrid-Unterricht ist dabei keine Fibel und soll nicht von vorn nach hinten einmal durch den Prozess führen, um am Ende den Unterricht „nach Schema F“ zu fördern. So will es Lehrer Tim Kantereit auch im Einstieg verstanden wissen. Stattdessen bietet es in verschiedenen Kapiteln Hinweise von Lehrkräften, die sich besonders in einem Gebiet, z. B. bei den L-S-Beziehungen, auskennen oder ihre Erfahrungen beim Ausprobieren teilen möchten. Wir stellen zwölf spannende Ideen vor, die im Buch diskutiert werden. Das Buch „Hybrid-Unterricht 101“ lässt sich als PDF kostenfrei beziehen oder in gebundener Ausgabe (14,99 €) bestellen. 

12 Ideen von Lehrkräften für den Fern- und Hybrid-Unterricht 

Notizen machen zu Inspiration aus dem Buch Hybrid Unterricht
©Hanna Budzko/shutterstock

Im Buch sind insgesamt 44 Beiträge zu finden, da einige Lehrkräfte ihr Wissen und ihre Gedanken zu mehreren Themen teilten. Als Inspiration haben wir hier zwölf Beiträge abstrahiert:

  1. Björn Nölte fordert mehr Eigenverantwortung für die Schülerinnen und Schüler im Unterricht. Er gibt seinem Oberstufen-Kurs für die Zeit der Schulschließung eine komplexe Aufgabe (Analyse einer Dramenszene) an die Hand und bietet sechs vertiefende Übungen an, die die Schülerinnen und Schüler fakultativ bearbeiten können. Da er die Gegebenheiten zum Lernen zu Hause nicht bei allen Jugendlichen kennt, überlässt er ihnen die Verantwortung, die Hauptaufgabe in ihrer Zeit zu lösen. Als er beim wöchentlichen Check-in fragt, wie es läuft, bestätigt ihm sein Kurs, dass er richtig entschieden hat. (S. 70) [Hinweis: In der Vergangenheit hat Björn Nölte für uns seine Forderungen für die LehrerInnenausbildung formuliert.]
  2. Claudia Langnickel und Reinhard Schmidt sehen Impulsvideos als gute Möglichkeit, um Schülerinnen und Schüler zu aktivieren. Sie grenzen diese klar von Erklärvideos ab, die eine Lerneinheit prägnant zusammenfassen. Das Impulsvideo, oder aktivierende Lernvideo, soll die Schülerinnen und Schüler motivieren, sich mit der Aufgabe auseinanderzusetzen, an deren Lebenswelt anknüpfen und aus der Passivität holen. Sie gehen systematisch am Beispiel eines Videos zur Integralrechnung durch ihre didaktischen Überlegungen und binden neben dem Impuls, Einzelaufträge, Tandems sowie die Sammlung und Diskussion der Arbeitsergebnisse in die Lerneinheit ein. (S. 81)
  3. Philippe Wampfler reflektiert, wie man Präsenz- und Fernunterricht kombinieren kann. Dabei geht er auch auf den Aufwand für die Lehrkraft ein und bespricht vier Szenarien: Die identischen Präsenzmodule, die am gleichen Tag in verschiedenen Blöcken erteilt werden, das identische Modul pro Zeitslot, bei dem sich Schülerinnen und Schüler im Laufe der Woche an einem Thema in verschiedenen Abschnitten entlang bewegen, eine Mischform, bei der Präsenz- und Distanzteilnehmende im Austausch miteinander stehen (als besondere Form nennt er hier die digital gestützte Fishbowl). Und schließlich die Variante des Flipped Classroom, bei der im Unterricht Fragen, Übungen und Diskussionen stattfinden und die Instruktion bzw. Stofferarbeitung asynchron zu Hause geschieht. (S. 102)
  4. Tim Kantereit gibt acht Vorschläge, wie sich Präsenzphasen agil (lies: flexibel) und schülerzentriert gestalten lassen. Er nutzt dafür den Flipped-Classroom-Ansatz und empfiehlt einige digitale Tools zur Arbeit am Whiteboard, zur Abfrage und zum kollaborativen Arbeiten (z. B. Flinga). Für den synchronen Unterricht geht Tim Kantereit u. a. auf die Optionen Expertenpanel, 15-%-Lösung oder 1-2-4 ein. (S. 131)
  5. Bob Blume erklärt, was die Voraussetzungen für einen guten digitalen Fernunterricht bzw. begleitetes, zeitgemäßes Lernen sind. Er mahnt an, dass der reguläre Präsenzunterricht auch Phasen der Erholung, der Redundanz und der Ablenkung enthält, die Schülerinnen und Schülern (und Lehrkräfte) brauchen. Diese fallen im Homeschooling weg. Das führt zu Stress. Er erklärt das Prinzip der KAKAO-Aufgaben, bei denen die Schülerinnen und Schüler offene Aufgaben bekommen, die sie kreativ bearbeiten können. Dadurch schafft er eine verbindliche Flexibilität. Schließlich verrät Bob Blume die 4+1-Regel zur Strukturierung von Distanzunterricht. (S.180) [Hinweis: Bob Blume hat außerdem vor einiger Zeit mit uns über die Herausforderungen des Referendariats für angehende Lehrkräfte gesprochen.]
  6. Ingo Klüsserath stellt die Lernaufgaben in den Fokus seiner Betrachtungen und lässt sie glänzen. Das handelnde Erfahren bzw. die Erstellung von Lernprodukten ist für ihn bei der Gestaltung und Steuerung von Unterricht zentral. Gelungene Lernaufgaben sind u. a.: anknüpfend an die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler, konfliktorientiert, herausfordernd, aber nicht überfordernd, schaffen Räume für die 4Ks und lassen Möglichkeit zur Auswahl in der Bearbeitung zu. Sie dienen nicht der Leistungsüberprüfung, sondern sollen vor allen Dingen zum Austausch anregen und um voneinander zu lernen. (S. 188)
  7. Klaus Oehmann und Dr. Patrick Blumschein pflichten ihm bei und zeigen auf, wie sich dadurch auch das Verständnis für die Rolle der Lehrenden entwickelt. Sie nutzen Lernaufgaben als Zentrum des Unterrichts, um so einen Austausch unter Lernenden miteinander und mit der Lehrkraft anzuregen. Durch diesen dialogischen Ansatz fallen zum einen Lernlücken eher auf, zum anderen wird besser gelernt. Lernaufgaben sind für Oehmann und Blumschein ein adäquates Unterrichtswerkzeug, um Schülerinnen und Schüler auf eine moderne Gesellschaft mit sich verändernden Bedingungen vorzubereiten. Sie stellen ihren aufgabendidaktischen Kompass vor, der bei der Erstellung sinnvoller Lernaufgaben auf Grundlage der Zusammensetzung der jeweiligen Lerngruppe unterstützt. (S.197)
  8. Amelie Klinger und Steffen Wardemann nutzen das kollaborative Arbeiten in Präsenz- und Distanzphasen, um das Klassengefühl zu stärken – auch wenn man nicht am selben Ort ist. Sie lernen dabei mit ihren Schülerinnen und Schülern mit und sind so mehr als nur Lernbegleitende. Sie besprechen die kollaborativen Formate Book Challenge, Video-Dinner und Friday for Feedback.(S. 262)
  9. Kathrin Stoffregen stellt weitere Formate der Leistungsbewertung vor, die man im digitalen Raum nutzen kann, wenn Klassenarbeiten gerade nicht möglich oder sinnvoll sind. Sie regt dazu an, das Bearbeiten von Klassenarbeiten mit Hilfsmitteln zuzulassen und dafür die Vorgaben in Bezug auf die Bearbeitungszeit, das zu erstellende Produkt und die richtige Verwendung von Quellenangaben anzupassen. (S.312)
  10. Christian Feierabend beleuchtet das Format der Genius Hour, um kreative Ideen bei Schülerinnen und Schülern zu beflügeln. Eingeführt wurde diese „freie Zeit“ für eigene Ideen in IT-Unternehmen. Durch hybride Lernsettings bietet es sich aktuell besonders an, diese Form des intensiven Kompetenz- und Erkenntnisgewinns an Schulen auszuprobieren. Die Lernenden werden zu Genies, die sich in einem abgesteckten Setting frei explorieren können. Dafür werden 20 Prozent der Unterrichtszeit für die Bearbeitung von eigenen Themenwünschen freigeräumt. Das Projekt läuft fächerübergreifend ab. Die Lehrkraft als Genius Coach begleitet und gibt Tipps bzw. zeigt Wege zum Ziel, gibt aber keine Lösung vor. Außerdem übernimmt sie am Ende die Bewertung des Arbeitsprozesses und des Produkts. (S.333)
  11. Björn Nölte erklärt, wie man im Lernprozess Rückmeldungen geben kann, also formativ bewerten kann, um dem Dilemma fehlender Prüfungen zuvorzukommen. Dafür müssen Lehrkräfte ihre Rolle als Bewertende ein Stück weit aufgeben und zum „Enabler“ werden. Die Schülerinnen und Schüler erhalten über direkte, personalisierte Rückmeldungen die Chance, einen individuellen Lernweg zu beschreiten. (S. 360)
  12. Sonja Senftleben reflektiert die Kriterien für einen guten, videobasierten Unterricht. Neben einer Reihe von sinnvollen Etiketten, wie „Kamera an oder aus“, sind die Rolle der Lehrkraft als Moderation sowie eine Aufwärmphase für die Lernenden zu Beginn einer Video-Unterrichtseinheit sehr hilfreich. Das aktive Einholen von Feedback, Peer-Feedback sowie die klare Kommunikation von Erwartungen an die Beteiligung der Schülerinnen und Schüler sind nach Meinung von Senftleben zwei Kernelemente guten Unterrichts. (S.403)

Noch ein Tipp: Tim Kantereit im Podcast „School must go on“

Der Initiator des Buches, Lehrer Tim Kantereit aus Bremen, hat im August 2020 mit Stephan Bayer, Gründer von sofatutor, über sein Buch und die Chance zur Vernetzung unter Lehrkräften gesprochen. Viel Spaß beim Hören!

Welche Erfahrungen haben Sie während des Fernlehrens gemacht und was würden Sie gern weiter ausbauen? Schreiben Sie uns gern einen Kommentar unter diesen Beitrag!

Titelbild: ©insta_photos/shutterstock.com