Verschiedene Erziehungsstile – wo hört die Toleranz auf?
Um ein Kind großzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf. Da wir das heute kaum noch leben, gucken wir häufig misstrauisch, was andere Eltern machen. Mama Christine von Mama arbeitet war nicht frei davon. Aber inzwischen macht sie es anders.
Zum Beispiel, was Bestrafungen oder sogenannte Belohungssysteme betrifft: Es würde mir niemals einfallen, meinem Kind Hausarrest zu geben, weil es eine schlechte Note aus der Schule nach Hause bringt. Etliche meiner Bekannten halten das für eine probate erzieherische Maßnahme. Und meinen Kindern Punktepläne für gutes Verhalten aufzudrücken, damit sie als Belohnung gemeinsame Aktivitäten mit der Familie machen dürfen, halte ich für absurd. Eine Familie funktioniert nicht wie das Sammelpunktekleben für das Messerset aus dem Supermarkt. Andererseits gibt es durchaus Dinge, die ich tatsächlich anordne: So bestehe ich darauf, dass das Kind duscht, wenn es streng riecht oder etwas vom eigenen Essen abgibt, wenn Besuchskinder da sind.
Auch ohne Zwang zum gemeinsamen Abendessen bricht kein Chaos aus
Trotzdem glauben viele meiner Nachbar*innen und Bekannten, bei mir gebe es keine Regeln. Das stimmt natürlich nicht. Es sind allerdings Regeln, die sich an Werten orientieren. Gewaltfreie Erziehung ist so ein Wert, und das gilt hier nicht nur für handfeste Ohrfeigen oder Klapse, sondern auch für Anschreien, Einsperren und Liebesentzug. Alle diese „Erziehungsmethoden“ sind Gewalt, so sagen es moderne Erziehungsexperten und -expertinnen, und das entspricht auch meiner Überzeugung.
Für andere mag es aber aussehen, als herrsche in meiner Familie Anarchie und Chaos. Ich zwinge meine Kinder nicht, am gemeinsamen Abendessen teilzunehmen, wenn sie lieber in ihrem Zimmer bleiben wollen und sich vor oder nach dem Essen ein Brot machen, anstatt sich mit an den Tisch zu setzen. Eine besonders streng mit ihrer eigenen Tochter umgehende Familie ließ mir kürzlich sogar mitteilen, sie erwäge eine Anzeige beim Jugendamt, da ich es mit den Medienzeiten nicht genau genug nehme. Ja, solche Zeitgenoss*innen gibt es.
Zum Glück kann ich mich in diesem Punkt entspannt zurücklehnen, denn mit just diesem Amt stehe ich durch freiwillige Hilfen, die wir erhalten, in sehr gutem Kontakt. Aber ein bisschen irre fand ich das schon: Denn von ausgerechnet jener Familie weiß ich, dass sie findet, die eine oder andere Ohrfeige könne nichts schaden.
Omas Sprüche gehen vielen noch leicht über die Lippen
Erziehungsstile können also sehr verschieden sein. Und manchmal sind es gar keine. Denn ein solcher setzt voraus, dass man sich als Elternteil reflektiert und nicht nur so handelt, wie es die eigenen Eltern schon taten – oder genau umgekehrt, es komplett anders als die eigenen Eltern hält. Beides zeugt nicht von Stil, sondern von reflexhaftem Verhalten.
Und so klingt mancher Spruch, den ich schon über meinen Hof schallen hörte, wirklich genauso, als habe ihn schon die Uroma benutzt: „Noch einmal, Fräulein, und es setzt was!“, gehört zu den Standard-Erziehungsmitteln von mindestens zwei meiner Nachbarinnen. Auch dass einem ungehorsamen Kind „Du kriegst gleich ordentlich was auf die Löffel!“ angedroht wird, treibt mir zwar den Blutdruck in die Höhe, geht vielen Eltern aber erschreckend selbstverständlich über die Lippen.
Andere Eltern, andere Regeln: Wann ist das Maß voll?
Genau da ist dann aber der Punkt, an dem bei mir Schluss mit der Toleranz ist. Wenn ich so etwas mitbekomme, weise ich darauf hin, dass es mittlerweile verboten ist, Kinder zu hauen. Ich verteile dann missbilligende Blicke, auch wenn ich mich damit absolut nicht beliebt mache. Mit Erziehung hat das meiner Meinung nach nämlich überhaupt nichts zu tun. Ich sehe darin absolute Hilflosigkeit. Daran kann ich auf diese Weise nur minimal etwas ändern. Und gleichzeitig bin ich nicht dazu da, meine Mitmenschen zu erziehen – Sie sehen, es ist kompliziert.
Ich glaube, je unsicherer sich jemand in seinem Erziehungsstil ist, desto aggressiver reagiert er darauf, wenn andere Eltern es anders halten. So wie bei dem Vater aus der Nachbarschaft: Er warf mir neulich im Beisein meiner und seiner Tochter an den Kopf, alle schlechten Eigenschaften, die seine Tochter neuerdings entwickelt habe, kämen von meinem Kind. Da ist mir tatsächlich der Kragen geplatzt und ich bin lauter geworden, was sonst überhaupt nicht meine Art ist. Wir gehen uns seitdem großräumig aus dem Weg, was in Ordnung ist.
Denn ob die Erziehung gelungen ist, können uns am Ende sowieso nur die eigenen Kinder sagen, wenn sie groß sind – nicht aber fremde Leute. Wenn man das bedenkt, dann erzieht es sich eigentlich ganz entspannt, oder?
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